#76 E-Commerce mit Matthias Thürling von intoCommerce

Podcast Industrie 4.0 | Der Expertentalk für den Mittelstand

E-Commerce für ein mittelständisches B2B-Unternehmen? Macht das überhaupt Sinn? Und welche Herausforderungen stehen an wenn man sich für einen Online-Shop entscheidet?

Das hat sich auch Andrea Spiegel gefragt und dafür in Folge #75 Matthias Thürling, Gründer und Geschäftsführer der intoCommerce GmbH, eingeladen um der Sache einmal auf den Grund zu gehen.

Dabei werden die brennendsten Fragen geklärt, unter anderem, welchen Mehrwert E-Commerce bietet, wie kann das alles gelingen und welche Faktoren gilt es zu beachten.

Auch auf den Rattenschwanz, den so ein Online-Shop mit sich zieht, wird näher eingegangen – was ist mit der internen Logistik und welche Rolle spielen die Mitarbeitenden dabei? Und um das alles nicht zu theoretisch zu halten kommen auch ein paar Praxisbeispiele auf den Tisch.

Kam dir auch mal der Gedanke an einen Online-Shop für dein Unternehmen? Was ein Timing, in dieser Folge findest du nämlich genau den richtigen Input um das mal anzugehen. Podcast-App an und los!

Das Transkript zur Podcast-Folge: E-Commerce

ANDREA SPIEGEL: Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von Industrie 4.0 – Der Experten-Talk für den Mittelstand. Ganz ehrlich, manchmal kann ich es selbst kaum glauben, aber wir haben tatsächlich wieder ein Thema gefunden, über das wir in diesem Podcast noch gar nicht gesprochen haben und auf das wir uns bisher noch nicht konzentriert haben.
Und zwar das Thema Onlinehandel, speziell im B2B-Bereich. Über B2C haben wir im Vorgespräch schon kurz gesprochen – Zalando und Co. kennt ja irgendwie jeder. Aber wie funktioniert das Ganze eigentlich im B2B-Umfeld? Dafür haben wir uns einen Experten eingeladen. Bei mir ist Matthias Thürling, richtig?
MATTHIAS THÜRLING: Richtig.
ANDREA SPIEGEL: Perfekt! Ich habe, glaube ich, anfangs immer “Thürlinger” gesagt. Das wollen wir natürlich nicht. Also, Matthias Thürling ist heute hier. Er ist Gründer und Geschäftsführer von intoCommerce. Schön, dass du heute da bist. Vielen Dank fürs Kommen!
MATTHIAS THÜRLING: Danke für die Einladung.
ANDREA SPIEGEL: An dieser Stelle wie immer der Hinweis: Diese Folge gibt es auch auf YouTube zu sehen. Schau dort gerne mal vorbei.

ANDREA SPIEGEL: Matthias, stell dich doch bitte mal vor. Was machst du bei intoCommerce, und warum hast du das Unternehmen gegründet?
MATTHIAS THÜRLING: Ja, im Prinzip hast du das Wichtigste schon gesagt. Ich bin Gründer und Geschäftsführer von intoCommerce. Außerdem bin ich Vater einer Tochter, die bald sechs Jahre alt wird. Ich trinke gerne Wein, fahre gerne Fahrrad und versuche manchmal sogar, beides miteinander zu kombinieren.
ANDREA SPIEGEL: Gefährlich.
MATTHIAS THÜRLING: Es geht. Ich habe intoCommerce vor zehn Jahren gegründet, weil ich damals schon gesehen habe, dass es im Mittelstand noch einen großen Bedarf gibt, den Vertrieb und den Kundenservice weiter zu digitalisieren. Es wäre fast eine unterlassene Hilfeleistung, das nicht zu tun, weil der Mittelstand da noch einiges aufzuholen hat. Aus unserer Sicht ist die einfachste Möglichkeit, einen echten Schritt nach vorn zu machen, einen Online-Shop einzurichten. Das muss dann nicht unbedingt so aussehen wie ein Amazon-Shop, wo man als Privatperson eine Glühbirne bestellt.
Ein Online-Shop kann auch einfach eine Oberfläche zwischen dem Kunden und den Unternehmensprozessen sein. Und genau das machen wir seit zehn Jahren. Dafür setzen wir eine E-Commerce-Software aus Deutschland ein, die sich Shopware nennt. Das ist die führende E-Commerce-Plattform im deutschsprachigen Raum. Wir sind dort der führende Goldpartner für B2B und somit im Mittelstand ganz vorne dabei. Und ich bin damit wirklich zufrieden.
ANDREA SPIEGEL: Und du bist immer noch dabei.
MATTHIAS THÜRLING: Genau.
ANDREA SPIEGEL: Es scheint also Spaß zu machen. Sehr cool. Vielen Dank für deine Vorstellung.

ANDREA SPIEGEL: Ich habe am Anfang immer eine kleine Frage, die ich meinen Gästen stelle – unvorbereitet. Für dich habe ich mir heute überlegt: Was wäre dein Plan-B-Beruf, falls das hier aus irgendeinem Grund ab morgen nicht mehr möglich wäre? Gibt es einen Kindheitstraum, den du nie verwirklicht hast?
MATTHIAS THÜRLING: Also, vor vielen Jahren habe ich mal darüber nachgedacht, ob ich nicht einen Rennradverleih auf einer der Kanarischen Inseln aufmachen sollte. Das Wetter ist dort immer gut, es kommen nette Menschen vorbei, um sich Räder auszuleihen, und man kann ein bisschen handwerklich tätig sein, wenn man an den Rädern bastelt.
ANDREA SPIEGEL: Das heißt, das Handwerkliche fehlt dir heute im Alltag und ist eher etwas für die Freizeit?
MATTHIAS THÜRLING: Ja, Handwerk im Sinne von: Man sieht das Ergebnis und kann es anfassen. Aber im Grunde genommen sind auch wir Handwerker. So wie ich mich zu Hause nicht traue, an einer Wasser- oder Elektroinstallation zu arbeiten, weil ich sage, das muss ein Profi machen.
ANDREA SPIEGEL: Elektroarbeiten finde ich auch immer schwierig, ja.
MATTHIAS THÜRLING: Genau, und wir sind eben Profis im Verknüpfen von Unternehmensprozessen – nicht von Elektroleitungen, aber eben von Geschäftsabläufen. Insofern sind wir auch Handwerker.
ANDREA SPIEGEL: Sehr schön, perfekte Überleitung. Dann schauen wir uns jetzt euer Handwerk etwas genauer an.

ANDREA SPIEGEL: Für den Einstieg habe ich mir überlegt: Mich würde interessieren, wie sich das E-Commerce-Thema in den letzten fünf bis zehn Jahren entwickelt hat. Wo standen wir damals, und wo stehen wir jetzt? Du hast ja als jemand, der seit zehn Jahren dabei ist, sicher einen guten Überblick. Muss nicht super tief sein, aber vielleicht gibst du uns ein Gefühl dafür, ob das relevanter geworden ist und was sich verändert hat.
MATTHIAS THÜRLING: Die Relevanz hat sich in den letzten zehn Jahren enorm verändert. Damals musste ich noch erklären, warum man überhaupt E-Commerce betreiben sollte. Ein CFO von einem Großhändler sagte mir mal, dass es kein E-Commerce-Modell gäbe, das sich rentiere oder funktioniere. Heute muss man das nicht mehr diskutieren. Es ist klar, dass man mit E-Commerce Geld verdienen kann – Amazon verdient Geld damit, und viele unserer Kunden setzen E-Commerce profitabel ein, das ist unbestritten.
In den letzten Jahren hat sich auch technisch einiges verändert. Vor zehn Jahren war man schon froh, wenn das System überhaupt funktionierte, die Bestellungen durchgingen und die Kreditkartenabrechnung klappte. Heute ist das selbstverständlich, es funktioniert reibungslos und wird immer einfacher. Es gibt inzwischen Cloud-Lösungen wie Shopify, mit denen man schnell einen Online-Shop zusammenstellen und innerhalb eines Tages online sein kann. Die Komplexität hat sich also enorm reduziert, und es ist für einfache Produkte inzwischen wirklich beeindruckend, wie schnell man einen Shop aufsetzen kann.
Wenn ich heute anfangen würde, sagen wir mal, diese Gläser hier zu verkaufen, könnte ich das wahrscheinlich innerhalb weniger Stunden umsetzen. Das ist schon eine beeindruckende Entwicklung.
ANDREA SPIEGEL: Also auf der einen Seite die technologische Entwicklung und auf der anderen Seite der Bedeutungszuwachs.
MATTHIAS THÜRLING: Die wirtschaftliche Relevanz ist enorm gewachsen, das sieht man mittlerweile in nahezu allen Branchen.

ANDREA SPIEGEL: Ich habe es vorhin in der Einleitung schon kurz angesprochen. Ich denke, es ist relativ klar, warum ein B2C-Unternehmen einen Online-Shop haben sollte, um zum Beispiel Gläser oder Tablets zu verkaufen. So etwas hat sicherlich jeder schon mal genutzt, und heutzutage gibt es wohl kaum jemanden, der noch nie etwas online bestellt hat. Heute möchten wir jedoch den Fokus mehr auf das B2B-Umfeld legen. Mich würde interessieren: Für welche Unternehmen ist E-Commerce eigentlich relevant? Zum Beispiel, könnte man einen Online-Shop für große Produktionsanlagen betreiben und sagen: “Bestellen Sie diese jetzt online”? Oder geht es hier eher um andere Anforderungen?

MATTHIAS THÜRLING: Auch das kann sinnvoll sein – dazu komme ich gleich. Grundsätzlich sagen wir, ein Online-Shop für B2B, also für Industrie und Großhandel, ist vor allem dann interessant, wenn es um bestimmte Produktkategorien geht. Was meine ich mit Produktkategorien? Schauen wir uns das mal aus Kundensicht an, also aus der Sicht des Kunden eines Online-Shop-Betreibers, und versetzen wir uns in die Rolle eines Einkäufers. Wenn dieser Einkäufer eine klassische ABC-Analyse der Produkte macht, die er regelmäßig kauft, dann gibt es A-Produkte, die sehr teuer sind, die aber auch nur alle 20 bis 30 Jahre bestellt werden. So eine große Maschine, wie du sie erwähnt hast. Diese Maschinen werden individuell entsprechend den Anforderungen des Kunden konfiguriert und existieren in genau dieser Form nur einmal – nämlich so, wie sie später in der Halle steht. Das ist also nichts, was man einfach schnell online zusammenklickt. Dann gibt es die B-Produkte, eher Gebrauchsgüter. Im Gegensatz zur Maschine, die ein Investitionsgut ist, sind Gebrauchsgüter zum Beispiel Computer. Diese könnte man sich so zusammenstellen, dass sie zum Beispiel eine größere Grafikkarte oder einen größeren Monitor haben, je nach Bedarf.

ANDREA SPIEGEL: Oder irgendwo noch LEDs dran.

MATTHIAS THÜRLING: Genau, solche Produkte, die man noch ein bisschen “aufhübschen” kann. Diese Gebrauchsgüter haben in der Regel eine Lebensdauer von drei bis fünf Jahren. Dann gibt es die C-Produkte, die Verbrauchsgüter, die tatsächlich verbraucht werden – also Wasser, Kaffee, Druckerpatronen und Ähnliches. Wenn wir das betrachten, sehen wir, dass C-Produkte ideal für den Online-Verkauf geeignet sind, weil sie häufig bestellt werden müssen. Kaffee, beispielsweise, ist nach einer Woche leer.

ANDREA SPIEGEL: Oder schneller, je nachdem.

MATTHIAS THÜRLING: Genau. Diese Verbrauchsgüter sind natürlich besonders gut für den Online-Verkauf geeignet. B-Produkte, die Gebrauchsgüter, sind ebenfalls geeignet, besonders wenn man den Kunden online gut beraten kann. A-Produkte hingegen, also Investitionsgüter, eher nicht. Daher muss man sein Produktportfolio betrachten und herausfinden, welche B- und C-Produkte sich für den Online-Verkauf eignen und wie man dem Kunden dafür eine gute Customer Journey bieten kann – also ein ansprechendes Kundenerlebnis. Selbst bei Investitionsgütern gibt es heutzutage Ansätze, bei denen nicht mehr die ganze Maschine gekauft wird, sondern nur die benötigte Leistung – zum Beispiel 100 Bar pro Stunde. Auch solche Pay-as-use-Modelle könnte man online abwickeln. Doch klassischerweise konzentrieren wir uns im B2B-E-Commerce auf Gebrauchsgüter und Verbrauchsgüter.

ANDREA SPIEGEL: Okay.

ANDREA SPIEGEL: Wenn man das so hört, denkt man sich, das klingt eigentlich ganz logisch – einfach einen Online-Shop aufbauen und los geht’s. Welche Herausforderungen haben Unternehmen in diesem Bereich? Es klingt ja erstmal einfach, und ich meine, ihr macht das schon lange. Aber wo liegen die Schwierigkeiten, wo gibt es vielleicht Hindernisse?

MATTHIAS THÜRLING: Ja, eine Herausforderung für zukünftige Online-Shop-Betreiber ist, wie sie diesen Shop in ihre Organisation integrieren. Wie passt der Shop zum Kundenerlebnis, von dem wir gerade gesprochen haben? Innerhalb der Organisation gibt es manchmal Widerstände. Was passiert zum Beispiel mit dem Außendienst? Nimmt der Online-Shop ihm Umsatz weg? Oder wie ist es mit dem Innendienst – werden Arbeitsplätze wegrationalisiert? Solche organisatorischen Fragen stellen sich oft.

ANDREA SPIEGEL: Auch Kommunikationsprobleme vielleicht?

MATTHIAS THÜRLING: Absolut. Auch das Thema Change-Management spielt eine Rolle. Die Mitarbeitenden müssen mitgenommen werden. Dazu kommen praktische Probleme wie Datenpflege. Was der Vertriebsinnendienst vielleicht seit 20 Jahren im Kopf hat – welche Produkte wie zusammenpassen – muss jetzt online abgebildet werden und ordentlich gepflegt werden. Man muss außerdem klären, wer in Zukunft dafür zuständig ist, welche Kenntnisse und Fähigkeiten das Unternehmen dafür braucht. Hier kommen viele neue Begriffe ins Spiel. Dann tauchen Agenturen wie wir auf, die plötzlich Fragen stellen, die das Unternehmen erstmal einordnen muss. Das ist ein Prozess, den man durchlaufen muss.

ANDREA SPIEGEL: Das bedeutet also, dass das vorhandene Expertenwissen der Mitarbeitenden, das oft über Jahre aufgebaut wurde, sichtbar und online nutzbar gemacht werden muss?

MATTHIAS THÜRLING: Genau, Produktexpertise ist definitiv vorhanden und muss nur gehoben werden. Spannender finde ich jedoch die inhaltliche Transformation im Unternehmen: das Verständnis, dass der Online-Bereich Arbeit erleichtern und unterstützen kann.

ANDREA SPIEGEL: Für manche ist das sicherlich schwer zu akzeptieren, oder? Hast du solche Fälle schon erlebt?

MATTHIAS THÜRLING: Ja, es ist anfangs oft schwer. Wenn ich in ein Unternehmen komme und da steht ein Wäschekorb unter dem Faxgerät, der am Monatsende voller Bestellungen ist, und zwei Mitarbeiterinnen tippen die Faxe manuell ein – das habe ich genauso schon erlebt. Da muss jedem klar werden, dass ihre Zeit besser investiert ist, wenn sie sich intensiver um die Kunden kümmern, die eine Beratung benötigen. Niemand möchte Faxe abtippen, sondern lieber interessante Kundengespräche führen.

ANDREA SPIEGEL: Um diese Aufgabe streiten sich vermutlich auch nicht viele.

MATTHIAS THÜRLING: Eben, ja. Und das muss man sich vor Augen führen.

ANDREA SPIEGEL: Alles klar.

ANDREA SPIEGEL: Bevor wir dann tiefer in die Strategie eintauchen oder die logistischen Aspekte betrachten, interessiert mich jetzt zunächst: Welches Ziel verfolge ich eigentlich mit einem E-Commerce-Shop? Anders gefragt, was ist der wirkliche Mehrwert, das eigentliche Ziel? Wo will ich am Ende mit E-Commerce hin?

MATTHIAS THÜRLING: Unsere Kunden haben oft ganz unterschiedliche Ziele. Auf unserer Webseite und über der Bürotür steht ja: „Wir machen keine Online-Shops, wir machen digitale Umsatztreiber.“ Das bedeutet, wenn ich mir bewusst mache, dass ich den Online-Shop auch als Marketingkanal nutzen will, könnte das Ziel sein, darüber gezielt Umsatz zu generieren. Manchmal ist es aber auch nicht der direkte Umsatz, sondern es geht eher darum, qualifizierte Leads zu gewinnen. Im schlimmsten Fall – das sage ich jetzt mal so – ist ein Online-Shop nur ein digitaler Katalog, der vorher gedruckt auf dem Tisch lag und jetzt digital zugänglich ist. Er ist online durchsuchbar, die Kunden können sich besser orientieren, vielleicht eine gute digitale Beratung erhalten, sich inspirieren lassen. Statt eines „In den Warenkorb“-Buttons klicken sie dann auf „Jetzt anfragen“. Auch das kann ein wertvolles Ziel für einen B2B-Shop sein.
Natürlich ist Umsatz ebenfalls ein häufiges Ziel, und das ist für uns oft naheliegend und greifbar. Ein weiterer Nutzen eines Online-Shops kann aber auch darin bestehen, Transaktionskosten zu senken. Wenn ich den Shop als Kundenportal nutze, müssen Bestellungen nicht mehr per Fax hereinkommen, die dann jemand abtippen muss. Stattdessen können Kunden ihre letzten Bestellungen online einsehen und einfach nachbestellen. Das läuft dann automatisch durch die nachfolgenden Prozesse. Auch das kann ein sehr gutes Ziel sein. Manchmal ist der Shop sogar komplett geschlossen – ich habe gerade mit jemandem gesprochen, der nur 200 Nutzer für seinen Online-Shop hat, darüber aber Millionenumsätze generiert. Das ist dann ein reiner Großhandels-Shop für eine exklusive Zielgruppe, wo es vor allem darauf ankommt, dass die Prozesse im Hintergrund reibungslos funktionieren und die Datenqualität stimmt.

ANDREA SPIEGEL: Genau, wie du sagst, der Shop kann je nach Zielsetzung ein vielseitiges Werkzeug sein.

ANDREA SPIEGEL: Ich will jetzt nicht zu viel vorwegnehmen, aber könntest du vielleicht kurz erklären, wie eine Strategie für einen E-Commerce-Shop aussehen könnte? Wie findet man die richtige Strategie oder zumindest das passende Ziel?

MATTHIAS THÜRLING: Bevor wir auch nur eine Zeile Code schreiben, gehen wir mit den Kunden erstmal in einen Workshop und stellen genau diese Frage. Wenn wir merken, dass noch Klärungsbedarf besteht, geben wir den Kunden manchmal auch „Hausaufgaben“ in Form eines Fragebogens, mit dem sie ihre eigenen Kunden befragen können. Oft denken Unternehmen, dass sie genau wissen, was ihre Kunden brauchen, weil sie täglich in Kontakt stehen.

ANDREA SPIEGEL: So à la: „Wir wissen, was die brauchen.“

MATTHIAS THÜRLING: Genau, das denkt man schnell. Aber die Frage ist ja, warum bestellen die Kunden immer wieder dieselbe Schraube oder ein bestimmtes Produkt? Vielleicht hat der Kunde das aus Gewohnheit gekauft – aber wurde jemals nachgefragt, ob es wirklich die beste Lösung ist? Häufig wurde das gar nicht hinterfragt. Erst wenn man das macht, versteht man, was das tatsächliche Bedürfnis der Kunden ist. Wenn man also die tieferen Beweggründe kennt, kann man daraus eine tragfähige Strategie entwickeln.
Häufig gibt es allerdings auch bereits ein übergeordnetes Ziel, wie zum Beispiel die Reduktion der Transaktionskosten, den Zugang zu neuen Märkten oder eine regionale Expansion. Viele Großhändler sind beispielsweise in ihrer Region stark verankert, z.B. im Handwerk, wo man dann sagt: „Ich gehe immer zum Müller.“ Nun möchte der Großhändler aber auch außerhalb seines Landkreises bekannt werden und Umsatz machen. Auch das kann ein Ziel sein. Solche Initiativen werden oft auch von der Unternehmensführung angestoßen.

ANDREA SPIEGEL: Das ist ein wichtiger Punkt, den wir hier ansprechen, wenn wir uns jetzt ins nächste Thema vertiefen – auch in Bezug auf Strategie. Es gibt ja verschiedene Stakeholder, die wir berücksichtigen müssen. Wir haben die Kunden bereits aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, und auch die Mitarbeitenden wurden kurz angesprochen. Dazu kommt natürlich die Geschäftsführung oder die CEOs, die ebenfalls bestimmte Ziele verfolgen, wie du schon erwähnt hast. Wie bringt man all diese Perspektiven zusammen? Und was ist deiner Erfahrung nach meistens die treibende Kraft? Ist es oft eine Entscheidung von oben, die dann umgesetzt wird? Oder gibt es auch Impulse von den Mitarbeitenden oder direkt von den Kunden?

MATTHIAS THÜRLING: Die erste Initiative kommt in der Regel von oben, zumindest meistens. Oft sehen wir, dass auf Arbeitsebene vielleicht mal ein kleiner Test aufgesetzt wurde – jemand hat zum Beispiel einen Shopify-Shop erstellt und einige Produkte hochgeladen, um zu zeigen, wie das Ganze aussehen könnte. Aber dann kommen sofort viele Bedenken auf: Das geht so nicht, es funktioniert nicht, die Produkte sind viel zu komplex für einen „Zusammenklick-Shop“. Da sind verschiedene Preislisten, Versandkosten und andere spezifische Anforderungen, die einfach nicht in so ein Testsetup passen. Trotzdem bietet so ein Testprojekt oft eine erste Idee, die man dann weitertragen kann, und man holt sich damit vielleicht schon einen ersten Stakeholder ab – meist aus dem Mittel- oder Top-Management. Es ist wichtig, solche Ebenen früh einzubeziehen, weil es letztendlich auch um Budget geht. Je größer das Projekt angelegt ist, desto mehr Entscheidungskraft und finanzielle Mittel braucht man von der Geschäftsleitung. Daher ist es sinnvoll, die Führung frühzeitig an Bord zu holen.

ANDREA SPIEGEL: Das heißt, es ist dann im Prinzip so, dass die Entscheidung eher von oben kommt, während die Umsetzung von den Mitarbeitenden getragen wird. Gleichzeitig müssen die Kundenwünsche ebenfalls berücksichtigt werden. Ganz schön komplex, oder?

MATTHIAS THÜRLING: Ja, das ist es. Wenn es einfach wäre, würde es ja jeder machen.

ANDREA SPIEGEL: Stimmt.

MATTHIAS THÜRLING: Man kann die Komplexität allerdings auch reduzieren, indem man sich zunächst auf ein überschaubares Sortiment und eine leicht ansprechbare Kundengruppe konzentriert. So lassen sich die ersten Schritte einfacher machen.

ANDREA SPIEGEL: Das ist ein guter Punkt. Ähnlich wie bei allgemeinen Digitalisierungsstrategien: Man muss nicht alles auf einmal umsetzen. Ein klarer Plan ist wichtig, aber dann geht man Schritt für Schritt vor. Das ist oft der bessere Ansatz.

MATTHIAS THÜRLING: Genau.

ANDREA SPIEGEL: Es gibt ja viele Faktoren, die man beachten muss. Du hast die Kunden erwähnt, aber es gibt auch das Thema mobile oder Desktop-Nutzung. Wo fängt man da bei der Strategie an? Du hast gesagt, Kundenbefragung ist ein guter Start. Was kommt dann? Was muss alles beachtet werden?

MATTHIAS THÜRLING: Wenn wir uns das Thema mobile und Desktop-Optimierung ansehen, ist das im B2B-Bereich bei uns kaum relevant. 92 Prozent unserer Nutzer sind am Desktop unterwegs, weil die Einkaufsprozesse meistens am Rechner durchgeführt werden. Das ist anders, wenn es um Handwerks- oder Industrieanwendungen geht, wo die Anwender direkt an der Maschine oder auf der Baustelle stehen und beispielsweise ein bestimmtes Rohrfitting nachbestellen müssen. Aber da die meisten E-Commerce-Systeme aus dem B2C-Bereich stammen, sind sie ohnehin bereits mobil optimiert.

ANDREA SPIEGEL: Das ist also nicht das Hauptproblem.

MATTHIAS THÜRLING: Was viel wichtiger ist, sind die Themen Daten und Prozesse. Die Daten müssen sauber und strukturiert sein, das Wissen muss gepflegt und in einem geeigneten System verfügbar sein. Heutzutage kann kein moderner Online-Shop mehr ohne Automatisierung und Systemanbindung auskommen, da sonst kein wirklicher Mehrwert für den Kunden entsteht.

ANDREA SPIEGEL: Du meinst Anbindungen an ERP-Systeme und Ähnliches?

MATTHIAS THÜRLING: Genau. Wenn am Ende jemand die Bestellung manuell eingeben muss, war der Fortschritt vom Fax-Abtippen nicht gerade groß.

ANDREA SPIEGEL: Das wäre ein Medienbruch.

MATTHIAS THÜRLING: Richtig. In so einem Fall lohnt sich der Online-Shop kaum. Daher muss man eine Automatisierung und Anbindung an ERP-Systeme sicherstellen. Ein weiteres häufiges Problem sind die internen Prozesse. Beispielsweise kann das Anlegen neuer Kunden in einigen Unternehmen eine Herausforderung sein, weil dabei verschiedene Prüfungen durchlaufen werden müssen.

ANDREA SPIEGEL: CRM und so weiter.

MATTHIAS THÜRLING: Genau. Da müssen dann vielleicht Steueridentnummern geprüft werden und diverse andere Formalitäten durchlaufen werden. Aber im Online-Business wollen wir ja möglichst innerhalb von zwei Stunden das Paket gepackt und versendet haben.

ANDREA SPIEGEL: Am liebsten schon geliefert.

MATTHIAS THÜRLING: Genau, das schaffen viele Unternehmen erst mal gar nicht. Da muss man überlegen, wie man das lösen kann. Ein weiteres Thema: Wenn ich bisher Großhändler war und jetzt auch für Endkunden, wie etwa Heizungsinstallateure, öffnen möchte, muss ich statt ganzer Paletten auch Einzelpakete verschicken. Das ist eine komplett neue Herausforderung: Wer packt die Pakete? Ist genug Verpackungsmaterial da? Solche Überlegungen führen dazu, dass man Prozesse neu denkt, was oft auch positive Veränderungen im Unternehmen auslöst.

ANDREA SPIEGEL: Automatisierung wäre dann quasi der nächste Schritt, oder? Erst geht es darum, das Wissen und die Produkte in den Online-Shop zu bringen, dann die Prozesse zu automatisieren. Hast du Unternehmen begleitet, denen das schwerfiel?

MATTHIAS THÜRLING: Ja, das hängt stark vom Reifegrad des Unternehmens ab. Wenn eine Firma bereits mit Daten und Schnittstellen arbeitet und über eine IT-Abteilung verfügt, die diese Systeme beherrscht, ist das Umstellen auf einen neuen Kanal relativ einfach. Für Unternehmen, die sich zum ersten Mal mit Online-Geschäft und Prozessveränderungen beschäftigen, ist das jedoch ein großer Schritt. Da kann es sinnvoll sein, erstmal ohne Automatisierung zu starten, die ersten 100 Bestellungen manuell abzuwickeln und die Kunden allmählich an den neuen Ablauf zu gewöhnen. Die Automatisierung folgt dann später. Auch das ist eine Option.

ANDREA SPIEGEL: Hast du schon Unternehmen erlebt, die gesagt haben: “Hey, ein Onlineshop ist eine super Idee, das ist die Zukunft, wir sind dabei!” – aber dann feststellen, dass sie weder ein CRM– noch ein ERP-System richtig nutzen? Oder war das eigentlich immer schon vorhanden? Oder würdest du sagen, das ist das absolute Minimum, das man braucht, um überhaupt loslegen zu können?

MATTHIAS THÜRLING: Ein CRM ist für uns tatsächlich gar nicht so entscheidend, weil das eher in den Bereich des Offline-Marketings fällt. Ein ERP hingegen ist schwer wegzudenken. Es ist schon selten, dass ein Unternehmen ohne ein ERP-System dasteht. Die große ERP-Welle rollte ja schon vor 30, 40 Jahren durch die Unternehmen. Viele dieser Systeme sind inzwischen natürlich veraltet und wurden in den letzten 20 Jahren oft durch neuere Versionen ersetzt. Meistens sieht es so aus, dass ein älteres System vorhanden ist, das man entweder anbinden muss oder sich entscheidet, es nicht anzubinden, weil es einfach zu aufwendig ist. Aber grundsätzlich ist irgendetwas in der Regel vorhanden.

ANDREA SPIEGEL: Also würdest du sagen, ohne ERP wird es schwierig?

MATTHIAS THÜRLING: Es kommt darauf an. Wenn ich zum Beispiel Hersteller bin und tausende Artikel auf Lager habe, könnte es mir egal sein, ob der Onlineshop 100 Bestellungen bekommt – ich habe ja genug auf Lager. Dann könnte es eventuell auch ohne gehen.

ANDREA SPIEGEL: Du hast vorhin das Thema Daten und Analysen angesprochen. Muss ich diese Daten alle schon vorbereiten, bevor ich starten kann? Oder kann ich mir da Hilfe holen? Welche Daten sind überhaupt notwendig, und wie erfasse ich sie?

MATTHIAS THÜRLING: Die wichtigsten Daten sind die Produktdaten, die wir für den Shop benötigen. Und das kann durchaus aufwendig sein, besonders wenn die Daten bislang nur rudimentär vorhanden sind. Oft gibt es keine detaillierten Produktbilder oder die Beschreibungen im ERP sind extrem knapp und nur für Eingeweihte verständlich. Das ist natürlich nicht optimal. Da muss dann einiges an Vorarbeit geleistet werden. Trotzdem kann man sich natürlich schon parallel mit dem Aufbau des Onlineshops beschäftigen. Ein Shop steht ja auch nicht von heute auf morgen, sondern das ist ein Projekt, das drei bis sechs Monate dauert, bis alles kundenorientiert angepasst ist und das Nutzererlebnis abgebildet werden kann. Währenddessen kann man die Produktdaten aufbereiten. Aber ja, Gedanken darüber sollte man sich frühzeitig machen. Ein Bild zu einem Produkt wäre schon hilfreich, ebenso wie Produktdatenblätter. Besonders für Händler, die Produkte von verschiedenen Herstellern anbieten, kann es aufwendig sein, Produktdatenblätter in einem einheitlichen Format zu erhalten. Das dauert dann oft.

ANDREA SPIEGEL: Das braucht Zeit, ist aber vermutlich ein ganz normaler Prozess.

ANDREA SPIEGEL: Du hast schon die Strategie, Vorbereitung und Planung angesprochen. Am Ende steht dann noch die Implementierungsphase. Wie läuft die ab?

MATTHIAS THÜRLING: Die Implementierungsphase ist eigentlich eine recht angenehme Zeit für den Kunden, da er in dieser Phase relativ wenig aktiv tun muss. Das ist dann unser Job. Vorher haben wir gemeinsam viel geklärt: in Gesprächen, durch Workshops und im Austausch mit Kunden. Wir haben einen detaillierten Projektumfang definiert, sodass alle Beteiligten wissen, was zu tun ist.
Während der Implementierung benötigen wir vom Kunden vor allem einen Ansprechpartner, der uns Feedback gibt. Manchmal werfen wir ihm etwas zur Prüfung rüber, fragen, ob er es so gut findet, und dann setzen wir es um. Besonders hilfreich ist in dieser Phase ein Techniker auf Kundenseite, der uns bei der Anbindung unterstützt und technische Herausforderungen löst. Das war es im Wesentlichen. Aber im Hinblick auf interne Prozesse, wie zum Beispiel die Anlage eines Neukunden, gibt es immer noch Punkte, die im Unternehmen manchmal schmerzhaft sind.

ANDREA SPIEGEL: Was ist mit Situationen wie Bestellfehlern? Angenommen, der Kunde bestellt das falsche Produkt – funktioniert das Retourenmanagement dann auch automatisiert, oder läuft das manuell ab?

MATTHIAS THÜRLING: Standardprozesse lassen sich automatisieren. Wenn eine Bestellung reibungslos durchläuft, ist das kein Problem. Rücksendungen sind im B2B-Bereich aber selten, da es hier kaum Kulanzrückgaben gibt, wie man sie im B2C kennt. Wenn ein Kunde einen Fehler macht, etwa das falsche Teil bestellt, läuft das eher manuell ab.
Das bedeutet, wir müssen prüfen, ob zum Beispiel zwei Teile kompatibel sind oder nicht. Wenn das Sortiment komplex ist, könnte es sinnvoll sein, eine Teilautomatisierung einzusetzen: Der Auftrag wird im Onlineshop vorbereitet, jemand prüft ihn manuell und gibt ihn frei, bevor er ins ERP-System übertragen wird. Einige ERP-Systeme haben auch eine automatische Auftragsprüfung. Dann wird der Auftrag dort verarbeitet und überprüft, bevor er ins System übernommen wird. Letztlich ist es sinnvoll, den Kunden gut zu beraten, um Fehler möglichst zu vermeiden.

ANDREA SPIEGEL: Also den Kunden gut abholen und beraten. Ja, sehr gut. Wir haben uns jetzt viel Theorie angesehen.

ANDREA SPIEGEL: Jetzt bist du ja ein Mann der Praxis, der sich jeden Tag damit beschäftigt und sich gut auskennt. Mich würden noch zwei Dinge interessieren. Die erste Frage lässt sich vielleicht etwas kürzer beantworten. Hast du mal ein Projekt erlebt, bei dem jemand gesagt hat: “Ich hätte gern einen Onlineshop, das stelle ich mir super vor.” Und am Ende wurde klar, dass es einfach keinen Sinn ergibt? Und wenn ja, was waren die Rahmenbedingungen?

MATTHIAS THÜRLING: Ja, solche Fälle gibt es durchaus. Oft hängt es vom Sortiment, vom Wettbewerbsumfeld und vom Reifegrad des Unternehmens ab. Beim Sortiment ist es häufig so, dass man Produkte hat, gerade im Handel oder Großhandel, bei denen die strategische Positionierung wichtig ist. Wenn ein Unternehmen Experten in einem bestimmten Bereich hat und Produkte anbietet, die sie wirklich gut beraten können – so, wie es kein anderer kann –, dann spielt der Wettbewerb eine geringere Rolle. Solange die Produkte stark sind und der Preis nicht komplett außerhalb der Marktspanne liegt, ist die Beratung und Markenstärke entscheidend, auch im Onlinebereich.
Wenn das Sortiment aber sehr vergleichbar und stark umkämpft ist und der Wettbewerb im Online-Marketing bereits sehr gut aufgestellt ist, dann braucht man einen hohen Reifegrad im Unternehmen in Bezug auf digitales Marketing und Online-Verständnis, um mithalten zu können. Wenn diese drei Faktoren – Sortiment, Wettbewerb und Reifegrad – nicht gut ausgeprägt sind, muss man sich fragen, ob ein Onlineshop Sinn macht. Dann kann es sinnvoller sein, nur einen bestimmten Teil des Sortiments online anzubieten, etwa Produkte, bei denen das Unternehmen tatsächlich Experte ist oder eine exklusive Lizenz hat. Dadurch kann man sich als Spezialist für dieses eine Produkt positionieren, was sich besser vermarkten lässt, weil der Wettbewerb kleiner ist und die Sichtbarkeit höher. Über die Zeit kann man dann den Reifegrad erhöhen und das Sortiment ausbauen, zum Beispiel durch Cross-Selling-Produkte wie passende Kabel oder Anschlüsse.

ANDREA SPIEGEL: Oder im B2C-Bereich die passende Hülle zur Trinkflasche.

MATTHIAS THÜRLING: Genau, zum Beispiel.

ANDREA SPIEGEL: Verstanden. Das heißt, es gab Projekte, bei denen es schwierig war. Mich würde jetzt ein Beispielprojekt interessieren, bei dem du uns komplett mitnehmen kannst. Was war die Ausgangslage bei diesem Unternehmen? Was habt ihr konkret getan, um es zu unterstützen, und was ist der Status quo heute? Vielleicht ein spannendes Beispiel aus dem Großhandel oder der Industrie.

MATTHIAS THÜRLING: Um ein Beispiel zu nennen: Was bedeutet E-Commerce für B2B-Unternehmen aus unserer Sicht? Das kann bei einem simplen Onlineshop beginnen, bei dem man sich nach Freischaltung Produkte anzeigen lassen und bestellen kann – ein ganz normaler B2B-Shop also. Es kann aber auch ein Kundenportal sein, das alle Prozesse rund um den Kunden digital abbildet. Wenn wir ein Unternehmen aus dem Großhandel mit bekannten, zum Teil exklusiven Marken nehmen, dann kann es sein, dass sie einen Onlineshop haben, der bisher funktionierte, aber in der Nutzerfreundlichkeit stark eingeschränkt war. Kunden haben sich teilweise durch den Shop „durchgequält“.

ANDREA SPIEGEL: Also ohne User Experience dahinter?

MATTHIAS THÜRLING: Genau, keine User Experience. Aber der Onlineshop war dennoch so nützlich, dass die Kunden den „Schmerz“ in Kauf genommen haben. Ein Jahr später sieht das schon ganz anders aus: Der Kunde hat jetzt ein richtig gutes Nutzererlebnis, findet seine Produkte schnell und muss viel seltener anrufen, weil im Kundenportal alle Belege digital verfügbar sind – von Rechnungen über Lieferscheine bis zu Garantiefällen und Seriennummern. Alles ist digital hinterlegt, integriert ins CRM und so weiter. Das ist dann die Endausbaustufe, bei der man sagen kann: Das Unternehmen ist auf einem ganz neuen Level.
Es gibt nur noch halb so viele Anrufe, weil die Kunden nicht mehr nachfragen müssen, wo Rechnungen oder Lieferscheine sind. Die Mitarbeiter, die vorher nach Dokumenten gesucht haben, können sich jetzt um qualitativ hochwertige Beratung kümmern und so den Kunden wirklich weiterhelfen.

ANDREA SPIEGEL: Was waren die Produkte dieses Unternehmens?

MATTHIAS THÜRLING: Die Produkte waren aus dem IT-Bereich, aber das Modell lässt sich auch auf das Handwerk oder ähnliche Bereiche übertragen. Oft hat man auch auf Kundenseite Ansprechpartner, die die Produkte nicht vollständig verstehen. Durch das Onlineangebot können wir dann ebenfalls unterstützen. Es ist großartig zu sehen, wie sich das Unternehmen transformiert und wirklich vorankommt.

ANDREA SPIEGEL: Ist es in deinen Augen besonders wichtig, eine Nische zu bedienen? Du hast öfter angedeutet, dass der Einstieg in den Wettbewerb schwierig ist, wenn andere bereits gut positioniert sind. Ist es sinnvoll, sich in eine Nische zu vertiefen, oder ist es vergebliche Mühe, wenn andere bereits gut etabliert sind?

MATTHIAS THÜRLING: Das hängt von der strategischen Ausrichtung ab, die wir zu Beginn festlegen. Wenn es nur darum geht, Transaktionskosten zu senken, also etwa Faxe durch digitale Aufträge zu ersetzen, dann muss man keine Nische besetzen. Man sollte lediglich die bestehenden Kunden digital gut bedienen, um deren Alltag zu erleichtern.

ANDREA SPIEGEL: Da spielt der Wettbewerb also keine Rolle.

MATTHIAS THÜRLING: Genau. Wenn ich hingegen digitale Wachstumstreiber aufbauen möchte, ist der Wettbewerb natürlich eine wichtige Frage. Man muss sich fragen, wie man im Vergleich aufgestellt ist und wie man darauf strategisch reagieren kann.

ANDREA SPIEGEL: Wenn man einen Blick in die Zukunft wirft, gibt es im Bereich E-Commerce irgendetwas, das besonders für B2B-Unternehmen relevant wird? Etwas, von dem du sagst, da kommt noch einiges auf uns zu? Gibt es spannende Trends, die wir im Blick behalten sollten? Und wenn ja, wie sehen diese aus?

MATTHIAS THÜRLING: Was wir besonders spannend finden, ist das ganze Thema Künstliche Intelligenz, vor allem rund um die Produktbeschreibungen von B2B-Produkten. Das ist oft ein schwieriges Feld, da es sich häufig um Industrieprodukte handelt – zum Beispiel eine Schraube hinten links. Auch so ein Produkt muss gut beschrieben sein, und zwar so, dass sowohl der Maschinenführer als auch der Einkäufer verstehen, was es tut und dass es das richtige Teil ist. Verschiedene Nutzerperspektiven auf das gleiche Produkt einzunehmen, finde ich mega spannend. KI kann hier helfen, Produktbeschreibungen zu erstellen, die für beide Seiten nützlich sind, ohne Unsicherheiten auszulösen – im Sinne von: „Ist das wirklich das richtige Produkt?“ Das ist schon sehr beeindruckend.
Auch das Thema Produktbilder ist spannend. Man könnte beispielsweise überlegen, wie man CAD-Zeichnungen in Zukunft einsetzen kann, vielleicht sogar in drei verschiedenen Szenarien visualisiert, sodass jeder sein eigenes Anwendungsszenario erkennen kann. Die gleiche Schraube sieht in einer Papierfabrik eben anders aus als im Schuhladen.

ANDREA SPIEGEL: Damit jeder versteht, dass das wirklich das Produkt ist, das er gerade in der Hand hält oder braucht.

MATTHIAS THÜRLING: Genau, dass es wirklich das Produkt ist, das gerade gebraucht wird. Solche Ansätze finde ich sehr spannend. Wenn man noch weiter in die Zukunft schaut, kommen wir natürlich auf das Thema „Headless E-Commerce“. Grausamer Begriff, aber leider so etabliert. Es bedeutet nicht, dass alles kopflos ist, sondern dass wir keine feste Benutzeroberfläche mehr haben, die direkt auf den Kunden ausgerichtet ist. Zum Beispiel könnte die Maschine eigenständig melden, dass sie einen Tropfen Öl braucht.

ANDREA SPIEGEL: Also sind wir dann wirklich schon auf einem Next-Level angekommen?

MATTHIAS THÜRLING: Genau. Die Maschine könnte zum Beispiel automatisch fünf Liter Öl bestellen, und am nächsten Tag steht der Lieferant vor der Tür und die Maschinenführung füllt das Öl direkt nach. Das bedeutet, dass Maschinen, Lagerbestände, Waren usw. automatisch melden, wenn etwas benötigt wird, und automatisch nachgeliefert wird. Das ist ein weiterer spannender Bereich.

ANDREA SPIEGEL: Das geht schon fast in Richtung Kanban, also Nachschubprozesse, die automatisch ablaufen.

MATTHIAS THÜRLING: Genau, aber eben in automatisierter Form. Die Maschine meldet selbstständig, was nachbestellt werden muss, und niemand muss mehr nachsehen.

ANDREA SPIEGEL: Beeindruckend. Das klingt auf jeden Fall spannend. Darüber könnte man wahrscheinlich eine ganze eigene Podcast-Folge machen.

MATTHIAS THÜRLING: Absolut, das wäre sicherlich spannend.

ANDREA SPIEGEL: Vielleicht greifen wir das Thema irgendwann noch einmal auf. Jetzt am Ende würde mich noch interessieren: Glaubst du, dass es notwendig ist, sich als Unternehmen direkt mit diesen Themen zu beschäftigen? Also, wenn du jetzt von KI sprichst – ist das schon relevant? Wenn ich zum Beispiel schon gute Produktbeschreibungen habe, brauche ich dann dafür unbedingt KI? Oder würdest du sagen, lieber direkt mit diesen Themen beschäftigen, um den Trend nicht zu verpassen?

MATTHIAS THÜRLING: Bei den Maschinenthemen – da sprechen wir ja über IoT, das Internet of Things – glaube ich, dass das noch etwas weiter weg ist. Wir sprechen zwar seit Jahren davon, aber es gibt noch immer viele Hürden.

ANDREA SPIEGEL: Ein anderes Thema, das stimmt.

MATTHIAS THÜRLING: Beim Thema KI hingegen sind wir schon sehr nah dran. Das kann man heute schon nutzen. Man muss dabei allerdings darauf achten, dass sie für einen klaren Anwendungsfall geplant, geprüft und eingesetzt wird. KI ist kein Wundermittel, aber ich glaube, sie kann sehr gut funktionieren, wenn man klare Anforderungen definiert. Es geht dann oft darum, dass beispielsweise 10.000 Produktbeschreibungen überprüft oder neu geschrieben werden. Oder dass Begriffe ersetzt werden, die man nicht mehr verwenden möchte. Bei Aufgaben, die mit der Generierung, Verarbeitung und Prüfung großer Datenmengen zu tun haben, sind wir bereits auf einem sehr guten Stand.

ANDREA SPIEGEL: Hast du sonst noch etwas mitgebracht? Vielleicht haben es die YouTube-Zuschauer schon gesehen – hier liegt ein Buch auf dem Tisch. Möchtest du dazu noch etwas sagen?

MATTHIAS THÜRLING: Ja, ich habe gestern meine Tasche gepackt, und da du das Thema Stakeholder angesprochen hattest, habe ich ein Buch eingepackt: E-Commerce for CEOs. Ich halte es mal in die Kamera – ihr könnt es euch aussuchen. Es ist auf Englisch, lässt sich aber leicht lesen. Es ist ein gutes Einführungsbuch, um in das Thema E-Commerce hineinzukommen. Für jemanden, der sich vielleicht noch nicht intensiv mit E-Commerce beschäftigt hat, ist es hilfreich, um die relevanten Buzzwords zu verstehen. Es erklärt Begriffe wie DTC (Direct-to-Consumer), B2B, CTA (Call-to-Action), CTR (Click-Through-Rate), AOV (Average Order Value) und vieles mehr.

ANDREA SPIEGEL: Jetzt kommen hier die Marketing-Fachbegriffe!

MATTHIAS THÜRLING: Genau, die sind einfach gut erklärt. Ist es nur für CEOs? Nein, auch für Führungskräfte allgemein, und ich sage gern „für Vorstände und Kleinkinder“. Es ist für alle geeignet, die einen einfachen Einstieg suchen.

ANDREA SPIEGEL: Ein wichtiges Detail – es ist kein Buch von dir. Es ist eine unabhängige Empfehlung, richtig? Von wem ist das?

MATTHIAS THÜRLING: Ja, von Dean McElwee. Ich habe keinen Bezug zu ihm, und es gibt auch keinen Affiliate-Link. Das Buch heißt E-Commerce for CEOs und ist auf Amazon erhältlich.

ANDREA SPIEGEL: Vielen Dank für die Folge. Es hat großen Spaß gemacht!

MATTHIAS THÜRLING: Sehr gern.

ANDREA SPIEGEL: Die Zeit ist wie im Flug vergangen. Wir haben über alles Mögliche gesprochen: Herausforderungen im E-Commerce, Ziele, Mehrwert und die Beteiligten, die alle aus verschiedenen Richtungen einfließen. Wir haben über Strategie, Umsetzung und praktische Anwendungsbeispiele gesprochen. Vielen Dank für deine Zeit – es hat Spaß gemacht.

MATTHIAS THÜRLING: Sehr gerne. Vielen Dank für die Einladung.

ANDREA SPIEGEL: Wenn euch die Folge gefallen hat, lasst uns gern einen Daumen hoch oder eine Bewertung bei Apple Podcast, Spotify und Co. da. Meldet euch auch gern bei uns, wenn ihr Fragen habt – wir leiten sie gerne an Matthias weiter. Bis zum nächsten Mal und vielen Dank nochmal für deine Zeit.

MATTHIAS THÜRLING: Sehr gerne.

ANDREA SPIEGEL: Macht’s gut! Ciao.

Welche Idee steckt hinter der Multikommissionierung in der Lagerlogistik?

„Die Idee bei der Multikommissionierung ist auch da, eben solche Leerfahrten, Leerwege, egal ob jemand läuft oder eben fährt, zu vermeiden.“

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