ANDREA SPIEGEL: Das ist ein wichtiger Punkt, den wir hier ansprechen, wenn wir uns jetzt ins nächste Thema vertiefen – auch in Bezug auf Strategie. Es gibt ja verschiedene Stakeholder, die wir berücksichtigen müssen. Wir haben die Kunden bereits aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, und auch die Mitarbeitenden wurden kurz angesprochen. Dazu kommt natürlich die Geschäftsführung oder die CEOs, die ebenfalls bestimmte Ziele verfolgen, wie du schon erwähnt hast. Wie bringt man all diese Perspektiven zusammen? Und was ist deiner Erfahrung nach meistens die treibende Kraft? Ist es oft eine Entscheidung von oben, die dann umgesetzt wird? Oder gibt es auch Impulse von den Mitarbeitenden oder direkt von den Kunden?
MATTHIAS THÜRLING: Die erste Initiative kommt in der Regel von oben, zumindest meistens. Oft sehen wir, dass auf Arbeitsebene vielleicht mal ein kleiner Test aufgesetzt wurde – jemand hat zum Beispiel einen Shopify-Shop erstellt und einige Produkte hochgeladen, um zu zeigen, wie das Ganze aussehen könnte. Aber dann kommen sofort viele Bedenken auf: Das geht so nicht, es funktioniert nicht, die Produkte sind viel zu komplex für einen „Zusammenklick-Shop“. Da sind verschiedene Preislisten, Versandkosten und andere spezifische Anforderungen, die einfach nicht in so ein Testsetup passen. Trotzdem bietet so ein Testprojekt oft eine erste Idee, die man dann weitertragen kann, und man holt sich damit vielleicht schon einen ersten Stakeholder ab – meist aus dem Mittel- oder Top-Management. Es ist wichtig, solche Ebenen früh einzubeziehen, weil es letztendlich auch um Budget geht. Je größer das Projekt angelegt ist, desto mehr Entscheidungskraft und finanzielle Mittel braucht man von der Geschäftsleitung. Daher ist es sinnvoll, die Führung frühzeitig an Bord zu holen.
ANDREA SPIEGEL: Das heißt, es ist dann im Prinzip so, dass die Entscheidung eher von oben kommt, während die Umsetzung von den Mitarbeitenden getragen wird. Gleichzeitig müssen die Kundenwünsche ebenfalls berücksichtigt werden. Ganz schön komplex, oder?
MATTHIAS THÜRLING: Ja, das ist es. Wenn es einfach wäre, würde es ja jeder machen.
ANDREA SPIEGEL: Stimmt.
MATTHIAS THÜRLING: Man kann die Komplexität allerdings auch reduzieren, indem man sich zunächst auf ein überschaubares Sortiment und eine leicht ansprechbare Kundengruppe konzentriert. So lassen sich die ersten Schritte einfacher machen.
ANDREA SPIEGEL: Das ist ein guter Punkt. Ähnlich wie bei allgemeinen Digitalisierungsstrategien: Man muss nicht alles auf einmal umsetzen. Ein klarer Plan ist wichtig, aber dann geht man Schritt für Schritt vor. Das ist oft der bessere Ansatz.
MATTHIAS THÜRLING: Genau.
ANDREA SPIEGEL: Es gibt ja viele Faktoren, die man beachten muss. Du hast die Kunden erwähnt, aber es gibt auch das Thema mobile oder Desktop-Nutzung. Wo fängt man da bei der Strategie an? Du hast gesagt, Kundenbefragung ist ein guter Start. Was kommt dann? Was muss alles beachtet werden?
MATTHIAS THÜRLING: Wenn wir uns das Thema mobile und Desktop-Optimierung ansehen, ist das im B2B-Bereich bei uns kaum relevant. 92 Prozent unserer Nutzer sind am Desktop unterwegs, weil die Einkaufsprozesse meistens am Rechner durchgeführt werden. Das ist anders, wenn es um Handwerks- oder Industrieanwendungen geht, wo die Anwender direkt an der Maschine oder auf der Baustelle stehen und beispielsweise ein bestimmtes Rohrfitting nachbestellen müssen. Aber da die meisten E-Commerce-Systeme aus dem B2C-Bereich stammen, sind sie ohnehin bereits mobil optimiert.
ANDREA SPIEGEL: Das ist also nicht das Hauptproblem.
MATTHIAS THÜRLING: Was viel wichtiger ist, sind die Themen Daten und Prozesse. Die Daten müssen sauber und strukturiert sein, das Wissen muss gepflegt und in einem geeigneten System verfügbar sein. Heutzutage kann kein moderner Online-Shop mehr ohne Automatisierung und Systemanbindung auskommen, da sonst kein wirklicher Mehrwert für den Kunden entsteht.
ANDREA SPIEGEL: Du meinst Anbindungen an ERP-Systeme und Ähnliches?
MATTHIAS THÜRLING: Genau. Wenn am Ende jemand die Bestellung manuell eingeben muss, war der Fortschritt vom Fax-Abtippen nicht gerade groß.
ANDREA SPIEGEL: Das wäre ein Medienbruch.
MATTHIAS THÜRLING: Richtig. In so einem Fall lohnt sich der Online-Shop kaum. Daher muss man eine Automatisierung und Anbindung an ERP-Systeme sicherstellen. Ein weiteres häufiges Problem sind die internen Prozesse. Beispielsweise kann das Anlegen neuer Kunden in einigen Unternehmen eine Herausforderung sein, weil dabei verschiedene Prüfungen durchlaufen werden müssen.
ANDREA SPIEGEL: CRM und so weiter.
MATTHIAS THÜRLING: Genau. Da müssen dann vielleicht Steueridentnummern geprüft werden und diverse andere Formalitäten durchlaufen werden. Aber im Online-Business wollen wir ja möglichst innerhalb von zwei Stunden das Paket gepackt und versendet haben.
ANDREA SPIEGEL: Am liebsten schon geliefert.
MATTHIAS THÜRLING: Genau, das schaffen viele Unternehmen erst mal gar nicht. Da muss man überlegen, wie man das lösen kann. Ein weiteres Thema: Wenn ich bisher Großhändler war und jetzt auch für Endkunden, wie etwa Heizungsinstallateure, öffnen möchte, muss ich statt ganzer Paletten auch Einzelpakete verschicken. Das ist eine komplett neue Herausforderung: Wer packt die Pakete? Ist genug Verpackungsmaterial da? Solche Überlegungen führen dazu, dass man Prozesse neu denkt, was oft auch positive Veränderungen im Unternehmen auslöst.
ANDREA SPIEGEL: Automatisierung wäre dann quasi der nächste Schritt, oder? Erst geht es darum, das Wissen und die Produkte in den Online-Shop zu bringen, dann die Prozesse zu automatisieren. Hast du Unternehmen begleitet, denen das schwerfiel?
MATTHIAS THÜRLING: Ja, das hängt stark vom Reifegrad des Unternehmens ab. Wenn eine Firma bereits mit Daten und Schnittstellen arbeitet und über eine IT-Abteilung verfügt, die diese Systeme beherrscht, ist das Umstellen auf einen neuen Kanal relativ einfach. Für Unternehmen, die sich zum ersten Mal mit Online-Geschäft und Prozessveränderungen beschäftigen, ist das jedoch ein großer Schritt. Da kann es sinnvoll sein, erstmal ohne Automatisierung zu starten, die ersten 100 Bestellungen manuell abzuwickeln und die Kunden allmählich an den neuen Ablauf zu gewöhnen. Die Automatisierung folgt dann später. Auch das ist eine Option.