ANDREA SPIEGEL: Gehen wir noch eine Ebene höher und schauen uns an, wie sich nicht nur die Führungskräfte und Mitarbeitenden verändern, sondern auch die Kultur im Unternehmen durch solche Prozesse. Oder verändert sie sich überhaupt?
PROF. DR. LEISS: Kultur ist ja ein Gestaltungselement. Wenn man sich ein Unternehmen von ganz oben anschaut, kann man es auf verschiedene Weise formal gestalten. Man kann den Aufbau der Organisation betrachten und sagen: „Okay, ich mache jetzt diese Abteilung und da jene.“ Man kann auch die Prozesse anschauen, was ja auch stark betrieben wird. Man versucht, auch Kleinteilungsprozesse zu machen. Das sind alles Formalisierungen, die sehr notwendig sind – Strukturen, genau. Aber neben diesen Formalisierungsstrukturen und Prozessen sind auch kulturelle Aspekte sehr wichtig. Seit Jahrzehnten ist das auch ein Gestaltungsthema für das Management, das sicherstellen soll, dass das Unternehmen produktiver arbeitet, als es allein durch die Struktur möglich wäre, und dass die Effizienz erhöht wird. Deshalb ist Kultur ein ganz wichtiger Faktor, den man natürlich durch verschiedene Elemente prägen kann. Zum Beispiel durch Unternehmenswerte, die man idealerweise erarbeiten lässt, dann aushängt und regelmäßig kommuniziert. Auch in Performance-Management-Gesprächen sollte man regelmäßig hinterfragen, wie die Kompetenzen zu den Werten passen und welchen Beitrag das Verhalten der Mitarbeitenden dazu leistet.
Man kann auch Führungsleitbilder gestalten, in denen man beschreibt, wie man sich das Verhalten von Führungskräften vorstellt. Das Thema Leadership ist ja auch sehr bedeutend. Leadership betrifft nicht nur höhere Führungskräfte, sondern alle im Unternehmen, weil wir ja in einem Zusammenhang arbeiten, in dem wir Verantwortung haben, ohne letztlich viel Kontrolle zu haben. Daher ist das Thema Leadership ganz zentral. Und wenn wir schon bei Leadership sind, ist auch der Transformationsgedanke ein wichtiges Element. Es geht darum, auf Zukunftsvisionen des Unternehmens hinzuarbeiten und die Mitarbeitenden mitzunehmen, sie zu inspirieren. Das ist auch ein kulturelles Thema, das über die Führungskräfte stark getrieben wird, aber auch durch kleinere, niederschwellige Kommunikation in digitalen Tools gefördert werden kann. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie Unternehmen auch einen gewissen Grad an Informalität zulassen können, um ein Gefühl zu schaffen, dass alle im gleichen Boot sitzen und für das Unternehmen arbeiten und letztlich für ein Ergebnis verantwortlich sind. Das ist ein sehr wichtiges kulturelles Thema. Kultur ist oft auch Teil eines Change-Prozesses, der digitale Elemente, aber auch Organisationselemente und kulturelle Elemente enthält.
ANDREA SPIEGEL: Wie wichtig würdest du sagen, ist es, dass sich jemand dezidiert mit diesem Thema beschäftigt – also mit dem Thema Leadership, Kulturgestaltung, mit den Werten und so weiter? Wie wichtig würdest du es einschätzen, dass es mindestens eine Person oder vielleicht auch eine Gruppe an Personen gibt, die sich wirklich darauf fokussieren, also einen Großteil ihrer Arbeitszeit damit verbringen? Oder würdest du sagen, das kann man nebenbei mitmachen?
PROF. DR. LEISS: Nein, ich glaube, das ist wirklich ein wichtiges Thema. Je nach Größe des Unternehmens kann man natürlich nicht immer zehn Leute dafür abstellen.
ANDREA SPIEGEL: Gibt es da eine Faustregel, die du sagen würdest? Zum Beispiel, bei 100 Mitarbeitenden brauche ich mindestens eine Person dafür? Oder sagst du, es kommt auf das Unternehmen und die Strukturen an?
PROF. DR. LEISS: Es kommt auf das Unternehmen an. Das Thema muss schon ganz oben tatsächlich angesiedelt sein. Es ist nicht sinnvoll, das irgendwo in der Mitte oder im Stab zu verankern, sondern wirklich an der Spitze, und sich dann auch Beratungsleistungen dazu zu holen.
ANDREA SPIEGEL: Was meinst du, was könnten das für Beratungsleistungen sein?
PROF. DR. LEISS: Beratungsleistungen im Bereich: Was gibt es für aktuelle Trends? Können wir Unternehmenswerte moderieren? Was machen die anderen? Also, was ist aktuell in Bezug auf Werte? Auch das Thema Purpose-Management ist relevant. Das machen wir typischerweise auch mit externen Beratern, die zumindest Workshops moderieren und dem Unternehmen mit einer Außenperspektive helfen.
ANDREA SPIEGEL: So diese Sinnhaftigkeit dessen, was wir tun?
PROF. DR. LEISS: Genau, was machen wir eigentlich, wofür tun wir das?
ANDREA SPIEGEL: Warum sind wir jeden Tag hier?
PROF. DR. LEISS: Genau, wie Ford sagte: „Ich will ein Auto für jedermann.“ Das war damals völlig revolutionär, für uns ist es jetzt Realität. Aber damals war das eine Vision, die man so noch nicht für möglich gehalten hätte. Das ist ein Beispiel für einen Zweck, eine Mission, mit der man gut arbeiten kann. Es muss aber Personen im Unternehmen geben, die dieses Thema auf dem Schirm haben. Ich würde nicht sagen, dass sie nur darauf abgestellt sind, aber sie müssen es im Blick behalten und regelmäßig mittlere Zeithorizonte einer Neubetrachtung unterziehen.