ANDREA SPIEGEL: Wir haben bereits darüber gesprochen, dass viele Unternehmen möglicherweise ein Geschäftsmodell haben, das hauptsächlich auf ihr Produkt ausgerichtet ist. Nun kommt jedoch durch verschiedene externe und interne Faktoren das Thema Service als Geschäftsmodell ins Spiel. Wie sollte man also mit dem bestehenden Geschäftsmodell im Verhältnis zu diesem neuen Ansatz umgehen? Existieren sie nebeneinander? Schließen sie einander aus? Wie funktioniert diese Koexistenz und wie geht man damit um?
MARILLA BAX: Das ist eine herausfordernde Frage, aber eine sehr wichtige. Wir können nicht einfach von heute auf morgen unser Geschäft schließen und am nächsten Tag mit neuen Dienstleistungen starten. Wir müssen sicherstellen, dass wir die bestehenden Leistungen sanft auslaufen lassen, anstatt unsere Kunden vor vollendete Tatsachen zu stellen und zu sagen: “Bisher war es so, aber ab morgen ändert sich alles, und Sie müssen sich damit zurechtfinden.” Wir müssen unsere Kunden behutsam daran gewöhnen.
Hier komme ich wieder auf das zurück, was ich zuvor erwähnt habe. Wir müssen uns mit dem Kunden und seinem Nutzen auseinandersetzen. Wenn wir ein neues Produkt entwickeln, sollte es idealerweise besser sein als das, was wir zuvor angeboten haben, oder zumindest anders. Im Idealfall bietet das neue Produkt einen Mehrwert, sodass der Kunde bereit ist, das alte Produkt loszulassen, wenn er erkennt, dass das neue für ihn vorteilhafter ist. Wir müssen diesen Mehrwert klar herausarbeiten, damit der Kunde versteht, dass das alte Produkt zwar akzeptabel ist, aber das neue besser ist. Wir müssen dies in einer Sprache tun, die der Kunde versteht.
In einer anderen Podcastfolge haben wir bereits über das Thema Erreichbarkeit gesprochen, bei dem oft auch das Wort “Reaktionszeit” auftaucht. Kunden verstehen oft unter “Reaktionszeit” die Zeit bis zur Lösung eines Problems. Doch in den meisten Unternehmen der Industrie ist die Reaktionszeit nicht gleichbedeutend mit der Lösungszeit. Es gibt keine einheitliche Definition von Reaktionszeit, die für alle gilt.
Reaktionszeit kann in verschiedenen Unternehmen unterschiedlich definiert sein. In vielen Unternehmen bedeutet Reaktionszeit, wie schnell man auf Kundenanfragen am Telefon oder per E-Mail reagiert und dabei eine qualifizierte Aussage darüber trifft, was das Problem ist und wie lange die Lösung voraussichtlich dauern wird. Dies ist jedoch oft nur eine Annahme und keine klare Definition.
ANDREA SPIEGEL: Was ist der genaue Unterschied?
MARILLA BAX: Genau, was ist der Unterschied? Reaktionszeit ist ein nicht klar definierter Begriff, den man nicht einfach im Duden nachschlagen kann. Jedes Unternehmen hat seine eigene Interpretation von Reaktionszeit. In vielen Unternehmen bedeutet Reaktionszeit, wie schnell man in der Lage ist, auf Kundenanfragen am Telefon oder per E-Mail zu reagieren und dabei eine qualifizierte Antwort auf das Problem zu geben. Aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Lösung sofort verfügbar ist. Reaktion bedeutet also, wie schnell und qualifiziert auf eine Anfrage reagiert wird.
Ein Beispiel: Ein Unternehmen sagt, es reagiert schnell, indem es automatisch ein Ticket erstellt und dem Kunden eine E-Mail mit einer Ticketnummer sendet, sobald dieser eine Anfrage per E-Mail sendet. Der Kunde erhält also eine Antwort, aber keine Lösung für sein Problem.
ANDREA SPIEGEL: Aber es passiert noch nichts.
MARILLA BAX: Genau, es passiert noch nichts, und der Kunde erwartet mittlerweile eine qualifizierte Antwort. Das bedeutet, jemand muss sich mit dem Anliegen befassen und eine Aussage darüber treffen können, wie schnell das Problem gelöst werden kann oder ob ein Techniker vor Ort erforderlich ist. Die Definition von Reaktionszeit kann also von Unternehmen zu Unternehmen variieren.
Es ist wichtig, die Erwartungen des Kunden in Bezug auf die Reaktionszeit zu klären. Ein Beispiel ist die Reaktionszeit für Techniker vor Ort. Wie schnell können wir sicherstellen, dass ein Techniker vor Ort ist, wenn der Kunde uns kontaktiert? In einigen Fällen könnte dies innerhalb von 24 Stunden sein, während es in anderen Fällen schneller sein muss.
Es gibt jedoch auch juristische Aspekte zu berücksichtigen, wie die Frage, ob die 24-Stunden-Reaktionszeit auch außerhalb der Bürozeiten gilt. Wenn Sie es genau nehmen, könnte die Reaktionszeit erst nach zwei Tagen verstrichen sein. Aber das entspricht nicht der allgemeinen Praxis.
ANDREA SPIEGEL: Das wäre wahrscheinlich nicht das, was Kunden erwarten würden, wenn sie von einer 24-Stunden-Reaktionszeit hören.
MARILLA BAX: Genau. Also wenn ich Dinge messbar machen will und sage, okay, unsere Reaktionszeit ist 24 Stunden, muss ich auch dazu sagen, was heißt für uns Reaktionszeit und damit auch für den Kunden. Stichwort Erwartungen klären. Heißt, wenn ich sage, 24 Stunden vor Ort, heißt, Techniker ist morgen vor Ort, wenn ihr heute bis 17 Uhr euren Fall bei uns meldet. Dafür stehen wir gerade, dass der bis spätestens morgen 17 Uhr da ist. Das stellt natürlich recht hohe Anforderungen an so eine Technikermannschaft. Ich muss wissen, wo bin ich denn in der Lage, in welchem Umkreis das zu leisten? Wie weit sind meine Reisewege?
ANDREA SPIEGEL: Wie viele Einträge habe ich vielleicht schon für den nächsten Tag vorliegen?
MARILLA BAX: Ja, weil wenn ich das irgendwo reinschreibe, dann muss ich das auch irgendwo leisten.
ANDREA SPIEGEL: Habe ich überhaupt alle Techniker da, die diesen Fall lösen können.
Also ist ja auch nochmal ein Unterschied.
MARILLA BAX: Haben alle Techniker die Fähigkeit, haben die das Wissen dazu, haben die die Werkzeuge, haben die die Zeit, sind die verfügbar, habe ich ein Netz dafür? Wenn meine Kunden alle im Umkreis von 50 Kilometer sind und ich habe hier 30 Techniker sitzen, ja, dann kann ich das vermutlich leisten. Habe ich 30 Techniker und der Umkreis ist 5000 Kilometer, weil ich irgendwie europaweit aktiv bin, da kann es schon eng werden. Wir haben einen Kunden, der sagt, unsere Kunden sind weltweit, allerdings sind die immer unterwegs, weil meine Kunden sind Schiffe. So, jetzt bekommst du einen Techniker, mach schnell aufs Schiff. Entweder, wenn das Schiff im Hafen ist, oder ich muss mit dem Hubschrauber hin.
Einfliegen, es ist ja tatsächlich so. Und dieser Kunde, das ist eine IT, die IT-Abteilung tatsächlich, die natürlich die IT auf einem Schiff versorgt. Und da kann der IT-Techniker nicht mal eben hinfliegen. Er müsste es eigentlich. Da kann ich aber tatsächlich auch nicht versprechen, innerhalb von 24 Stunden sind wir da. Ich kann da nur etwas versprechen, was ich tatsächlich beeinflussen kann. Das heißt, ich kann sagen, wenn das Schiff im Hafen liegt, kann ich auch da sein. Da kann ich ihn hinbringen, den Techniker. Da kann ich auch einigermaßen kalkulieren, wie schnell kommt er hin. Gut, unter Pandemiezeiten vielleicht nicht ganz so.
ANDREA SPIEGEL: Wollte gerade sagen, wenn dann so eine Pandemie von der Seite kommt, dann kann es auch mal schwierig werden.
MARILLA BAX: Dann ist die Frage, ist das Schiff remotefähig?
ANDREA SPIEGEL: Wollte gerade sagen, dann wäre vielleicht Remote Support eine gute Lösung.
MARILLA BAX: Genau, auch das kann ich ja definieren. Kann ich remote irgendetwas tun? In welchem Zeitfenster? Da kommen Digitalisierungen natürlich zu Pass. Je mehr von den Systemen Online-Zugang haben, desto mehr kann ich auch online ermöglichen.
Das heißt, es gilt ja zu vermeiden, dass ein Techniker raus muss. Jetzt kommen wir zu den Produkteigenschaften. Ich muss beschreiben, was bin ich in der Lage zu leisten und welchen Mehrwert hat das für den Kunden. Wenn der Kunde sagt, 24 Stunden ist toll, aber mir hilft das nur, wenn es in 5 Stunden geht, wenn wir Medizintechnik nehmen.
ANDREA SPIEGEL: Dann muss Scotty ran.
MARILLA BAX: Ja, dann muss ich natürlich die Frage stellen, wie groß muss mein Technikernetz sein? Wenn ich jetzt in der Medizintechnik bin, wo es um Leben und Tod geht, das heißt, ein Operateur steht da und operiert im offenen Herzen, das ist mal übertrieben gesagt, und diese Anlage geht kaputt. Davon haben die Krankenhäuser jetzt nicht 10 Stück stehen, sondern ein oder vielleicht auch zwei.
ANDREA SPIEGEL: Und kann auch nicht noch 2 Stunden rumliegen.
MARILLA BAX: Ja, auch das. Natürlich haben die dann Notfallsysteme, die können sich schon irgendwie 2 Stunden behelfen, aber sie können nicht 3 Tage auf den Techniker warten. Und wenn man das jetzt an solchen lebensbedrohlichen Anlagen sieht, dann hat mein Kunde ein ganz anderes Verständnis von Reaktionszeit, als wenn ich jetzt eine Anlage betreue, die Schräubchen für Brillen herstellt.
Dann geht natürlich auch Geld durch. Aber die, die Schräubchen für Brillen herstellen, wir beide tragen Brillen, die haben wahrscheinlich in dieser Produktionskette noch 3 gleichartige Maschinen. Da fällt dann eine aus, ist Verlust, klar, tut weh. Aber die können im Zweifel auch mal 2 Tage warten. Also im Vergleich jetzt einfach nur, wenn es um Leben und Tod geht oder nur um Geld. Nur um Geld. Da muss ich gucken, was ist der Schmerz meines Kunden, was ist er bereit dafür auszugeben? Stichwort Geld.
Wenn ich also ausrechnen kann, was kostet ihn eine Stunde Stillstand der Maschine, dann kann ich das auch als Maßstab nehmen, was darf denn ein Service kosten in einer gewissen Geschwindigkeit? Nun muss ich das wissen, also muss ich ausrechnen können, dann kriege ich da eine andere Wertigkeit in einer Dienstleistung. Wenn ich dem Kunden sage, wenn du nur bereit bist für eine Reaktionszeit von, sagen wir, 96 Stunden Geld auszugeben, aber deine Maschine, wenn die 3, 4, 5 Tage stillsteht und deine Produktion läuft nicht, was kostet dich das, dieser Ausfall?
ANDREA SPIEGEL: Ist es dann nicht doch lohnenswert?
MARILLA BAX: Lohnt es sich dann nicht doch mehr Geld für den Service auszugeben? Dann sind die meist auch im Verhandlungsbereich. Am Ende wollen ja alle verhandeln. Das heißt auch da, ich sollte mir ein bisschen Verhandlungsspielraum einarbeiten. Jetzt sind wir wieder beim Vertrieb. Der kann verkaufen, aber er braucht Verhandlungsspielraum.
ANDREA SPIEGEL: Das haben wir, glaube ich, auch in der ersten Folge schon mal besprochen, was man den Leuten alles mitgeben muss, also seiner Mannschaft quasi, um da eine gute Grundlage zu schaffen.
MARILLA BAX: Alle brauchen Verhandlungsspielraum. Ein Vertrieb muss wissen, was kann ich an Nachlass geben, wo kann ich auch Zugeständnisse machen. Und auch da Schnittstelle, Vertrieb, Service ist ja auch bei Geschäftsmodellen so ein Punkt. Der Vertrieb sagt, das geht nicht, das müssen wir haben, oder auf jeden Fall, und schneller und schöner. Und der Service sagt, was sollen wir noch alles machen? Und dazwischen ist noch irgendwo die Projektierung, die da sagt, geht’s noch? Und die Konstruktion sagt, um Gottes willen.
Die muss ja alle unter einen Hut bringen. Und am Ende muss es auch servicefähig sein, das Gerät. Stichwort Konstruktion, fällt mir aber grad so ein. Wenn das Produkt nicht servicefähig ist, also so verbaut ist alles, dass der Techniker, wenn er dran geht, sagt, um Gottes willen, jetzt muss ich wieder eine Stunde erstmal nur damit mich beschäftigen, alles abzubauen, damit ich dahin komme, wo ich eigentlich hin muss. Das ist auch blöd.
Wenn die nicht remotefähig sind, oder erst nachträglich remotefähig gemacht werden müssen durch irgendwelche Anbauten, ist auch schwierig. Kürzlich habe ich einen Techniker begleitet, beinahe in Betriebnahme auch, der musste vor Ort noch den Stecker wechseln, weil dann nicht klar war, ist das Drehstrom oder Wechselstrom, oder was haben wir eigentlich für einen Stecker? Und das musste er aufwendig umbauen. Das war zum Glück Elektriker und hatte zufällig auch das Zubehör dabei. Praktisch. Aber jetzt kann man fragen, was ist der Fehler?
Der Fehler ist entweder von der Konstruktion, dass die das nicht gleich mit Stecker vorsehen, ob es denn geht, weiß ich gar nicht. Aber ich würde noch einen Schritt weiter gehen und sagen, der Vertrieb hat da nicht aufgepasst, oder derjenige, der die Montagesituation vorher klären muss. Da brauchen wir Stecklisten. Und auch das zählt ja in den Service mit rein. Wie viel Sicherheit gebe ich da in so einen Prozess, damit mein Geschäftsmodell auch wirtschaftlich bleibt?
Weil wenn ich so ungeplante Aktivitäten vor Ort habe, ich muss mal eben noch irgendwas umbauen. Kostet wieder Zeit und Geld. Das Teil muss dabei sein. Das Teil kostet Zeit und nimmt mir Zeit für andere Dinge. Das ist schade. Und wenn der Techniker dann nicht mal weiß, was das Teil kostet, kann er den Kunden auch gar nicht sagen, kostet jetzt übrigens 27,80 Euro extra.