ANDREA SPIEGEL: Das wollte ich jetzt gerade fragen, weil ich sage mal, ich gehe mal von mir selbst aus. Ich finde, man merkt es auch manchmal, dass man in Stresssituationen, also wenn einfach viel los ist, man viele Termine hat zum Beispiel, und von einem zum anderen geht, dass man manchmal die Zeit dazwischen gar nicht nutzt, um mal durchzuatmen und runterzufahren. Aber man nimmt dann auch noch das Ding in die Hand und beschäftigt sich weiter damit. Wie würdest du sowas angehen? Du hast jetzt gerade schon gesagt, diese Strukturen aufzubauen ist hilfreich, um das Lernen wieder zu lernen. Wie lerne ich denn das Lernen wieder? Und vor allem in einer Unternehmensumgebung, sage ich mal, wo ich ja auch einen Job zu erledigen habe und nicht einfach sagen kann: „Ich nehme mir jetzt mal Zeit und lerne erst mal wieder, wie man lernt.“
PROF. DR. MARTIN: Also die wichtigste damit verbundene Aussage, und da sind wir wieder bei den Grundsatzfragen des Lernens und der Lehr-Lern-Forschung, ist eine relativ unbefriedigende: Schnell geht gar nichts. Wir können gegen gewohnte Routinen, die wir so stark internalisiert haben, nicht einfach ankämpfen. Ein typisches Beispiel: Man hat eine Minute Zeit und nutzt diese eine Minute, um zu prüfen, wie viel E-Mail-Stress in den letzten 20 Minuten entstanden ist, ohne auch nur ansatzweise die Chance zu haben, darauf jetzt zu reagieren. Es macht keinen Unterschied, es zu wissen. Also ich würde da, ich finde es auch immer gut, das selbstkritisch zu sagen, da mache ich gar keinen Hehl draus. Das ist das Erste, was ich gleich, bevor ich wieder an meinen Campus fahre, tun werde: Einmal schauen, was ist in der Zwischenzeit passiert.
ANDREA SPIEGEL: Auch reich verpasst, ja.
PROF. DR. MARTIN: Quatsch. Es gibt keinen Grund, sich für so wichtig zu nehmen, als dass man das gerade wissen müsste. Und trotzdem wird es passieren. Also heißt es, wir haben das erstens ziemlich stark internalisiert, weil dieses Lernen eben mit Hochdruck adaptiv passiert. Es sind die besten Gewohnheitsstrukturaufbauer. Und insofern müssen wir ein Stück weit in enger Begleitung und bestenfalls, und das wissen wir, in einer Kollaborationsstruktur, arbeiten. Das heißt, in einem Team-Setting, in dem so etwas zur gelebten Kultur wird. Es gibt dann kleinere Sparing-Teams, die sich nach diesen Lerntrainings gegenseitig darauf hinweisen, sich nicht ablenken zu lassen.
ANDREA SPIEGEL: Also erstmal quasi Bewusstsein dafür schaffen, dass man das überhaupt tut?
PROF. DR. MARTIN: Genau. Das funktioniert in den allermeisten Fällen. Wenn wir uns hier, würden wir auch sofort ein Commitment abgeben, alles klar, offensichtlich gibt es ein kleines Problem. Es fällt uns nicht so richtig auf, aber es gibt irgendwie ein kleines Problem. Wenn das jetzt ernst gemeint weitergehen soll, braucht es Sparing-Partner, die einen in der relevanten Kernzeit umgeben und wechselseitig aufeinander Acht geben. Das ist ein typisches Einfallstor. Bei erwachsenen Lernern wissen wir, dass man recht gut aufeinander achten kann. Der Disziplinierungseffekt einer Gruppe – im gut gemeinten Sinne – kann stark sein. Das ist etwas, auf das man setzen kann, also einen Kick-Off zu machen, völlig klar. Ein Unternehmen kann ja nicht sagen: „Jetzt machen wir acht Wochen nichts anderes als Achtsamkeitstraining, und dann treffen wir uns hier wieder und machen weiter unsere Arbeit.“ So wird das nicht laufen, das wird nicht funktionieren.
ANDREA SPIEGEL: Ich kann zum Beispiel innerhalb meines Marketing-Teams sagen: „Hey Leute, wir sollten mal gegenseitig darauf achten, wo wir uns ablenken lassen.“
PROF. DR. MARTIN: Ganz genau. Also wir haben ja in… da kann ich überhaupt nicht, das ist jetzt mit einem kleinen Augenzwinkern gesagt, aber wir haben ja in Klassen gerne und häufig die Diskussion: „Wohin eigentlich mit den Endgeräten, also mit den privaten Endgeräten, wenn sie gerade nicht genutzt werden?“
ANDREA SPIEGEL: Die man ja gar nicht mitbringen darf.
PROF. DR. MARTIN: Genau, die man manchmal gar nicht mitbringen darf, aber die trotzdem da sind. Auch das können Formate sein, die in Unternehmen oder in betrieblichen Kontexten vielleicht an der einen oder anderen Stelle das Potenzial haben, vorsichtig andere Routinen aufzubauen. Man darf nicht zu salopp mit Routinen umgehen, wenn man sich mit Lernen auseinandersetzt. Das ist wirklich harte Arbeit – wie alles. Etwas zur Gewohnheit zu machen, ist ein hartes Stück Arbeit. Vor allem, und das ist das Problem: Je älter wir werden, desto schwieriger wird es. Eine Fünklässlerin hat es da viel einfacher als eine 35-Jährige, die diese Routinen schon hat und damit auch ein Stück weit schon erfolgreich gefahren ist.
ANDREA SPIEGEL: Das ist auch wie beim Versuch, eine Diät zu machen oder Sport zu treiben. Es ist nicht so, dass keiner Zeit dafür hätte.
PROF. DR. MARTIN: Genau, nein. Wir können das ganz gut übertragen. Aber es gibt eben kein Einfallstor, das so genial und, da landen wir wieder bei KI, so algorithmisiert und perfekt personalisiert das ideale Angebot macht, das uns genau das bietet, was wir gerade brauchen, um nicht das zu tun, was wir eigentlich tun sollten oder wollten. Das heißt, ein Stück weit auch nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein. So könnte man das eigentlich sagen.
Und ausgehend davon würde ich klar sagen: Diese Art von „Wir machen das mal zu einem gemeinsamen, benannten Problem“ – denn ich könnte mir vorstellen, das ist aber jetzt sehr gemutmaßt – es ist ja auch ein bisschen Lifestyle, zu sagen: „Ich überlege, was muss ich in meinen zwei Minuten tun?“ Das könnte in der Welt der wissenschaftlichen Community auch eine Diskussion auslösen, zum Beispiel auf Konferenzen. Das kann auch schnell den Anschein von Wichtigkeit erwecken.
ANDREA SPIEGEL: Ich bin so wichtig, dass ich gar nicht mal die zwei Minuten nutzen kann.
PROF. DR. MARTIN: Auch in unserer Welt würde ich sagen, dass auf Konferenzen selten jemand sagt: „Wenn ich nicht gerade in einem Gespräch bin, gehe ich einfach mal raus, trinke eine Tasse Kaffee für 15 Minuten und mache nichts.“ Das wird nicht vorkommen. Das ist ein Bild, das sicherlich auch mit Rollenerwartungen zu tun hat. Dünnes Eis, aber ich relativiere das. Ich könnte mir vorstellen, dass es betriebliche und unternehmensbezogene Kontexte gibt, die ähnlich funktionieren. Wenn wir bei der beruflichen Bildung landen, würde ich zwei Kernstrategien verfolgen. So viele digitale Tools wie möglich funktional einsetzen und sie zugleich zum Reflexionsanlass nutzen, um, im konstruktiven Sinne, Abstand von digitalen Tools zu nehmen, wenn ich sie gerade nicht nutzen will. Diese beiden Ansätze müssen sich eigentlich gegenseitig bedingen. Das klingt erstmal paradox: Ich hole mir mehr von der „Droge“, um sie auf anderer Ebene kürzer zu halten. Aber anders wird es nicht gehen.