#87 KI in der beruflichen Bildung mit Prof. Dr. Martin

Podcast Industrie 4.0 | Der Expertentalk für den Mittelstand

Erinnerst ihr euch noch an den Moment, als KI nur etwas für Science-Fiction-Filme war? Tja, das ist lange vorbei – heute ist sie mitten in unserem Alltag angekommen!

In der letzten Folge unserer Reihe „Industrie meets Wissenschaft“ sprechen wir mit Dr. Alexander Martin, Professor für Medienpädagogik, über ein hochaktuelles Thema: die Akzeptanz und Wirksamkeit KI-gestützter Diagnostik in der beruflichen Bildung.

Was bedeutet das für den Mittelstand und für Fachkräfte von morgen?

Welche Kompetenzen sind gefragt und wie verändern sich Schulungsangebote?

Es lohnt sich auf jeden Fall reinzuhören!

Das Transkript zur Podcast-Folge: KI in der beruflichen Bildung

ANDREA SPIEGEL: Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von Industrie 4.0, der Experten-Talk für den Mittelstand. Ja, ihr seht schon, wir sind heute das fünfte und letzte Mal hier im Lab on Tour von Digitalise SWF. Unsere tolle Reihe „Industrie meets Wissenschaft“ geht jetzt langsam zu Ende, und wir haben noch einmal ein ganz, ganz spannendes Thema in dieser letzten Folge für euch vorbereitet. Wir sprechen über die Akzeptanz und Wirksamkeit von KI-gestützter Diagnostik in der beruflichen Bildung. Ich finde, es klingt erstmal relativ kompliziert oder komplex, aber das hat man ja auch gerne in der Wissenschaft – dass man eine schöne These aufstellt, die erstmal keiner versteht, und dann geht es eben tiefer rein.
Deswegen haben wir natürlich auch einen tollen Gast bei uns, der da ein bisschen Licht ins Dunkel bringt. Bei mir ist Dr. Alexander Martin. Er ist Professor für Medienpädagogik mit dem Schwerpunkt Mediendidaktik im Fachbereich Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften der Fachhochschule Südwestfalen. Schön, dass du da bist.
PROF. DR. MARTIN: Ja, vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich, hier zu sein.
ANDREA SPIEGEL: Sehr gerne! Wie immer an dieser Stelle noch ein kurzer Hinweis für euch: Auch diese Folge gibt es wieder als Video bei YouTube zu sehen. Schaut da gerne mal vorbei, damit ihr noch einen letzten Blick auf diesen tollen Truck hier werfen könnt.

ANDREA SPIEGEL: Alex, ich habe jetzt gerade schon deinen akademischen Titel, Grad und alles vorgelesen. Jetzt darfst du uns mal erzählen, was das eigentlich bedeutet. Was machst du in deiner täglichen Arbeit, und worum geht es bei deiner Forschung und deinen Themen?
PROF. DR. MARTIN: Ja, in den Arbeitsfeldern, die ich an unserer Hochschule vertreten darf, geht es im Wesentlichen um Fragen im Kontext des Lehrens und Lernens im Lichte von Medien. Das sind nicht nur digitale Medien, da landet man ja relativ schnell, wie heute vermutlich auch. Aber tatsächlich geht es auch um Fragen von Lernmaterial und deren Einsatz im Kontext – mein Schwerpunkt ist hier die Schule. Das umfasst Schulbücheranaloge Medien und alles, was in irgendeiner Form dazu beiträgt, dass Menschen etwas lernen. Das sind die Schwerpunkte, die ich vertrete. Mein eigener Praxiskontext war mal die Schule und ist es in der Forschung immer noch, und deshalb richtet sich der Blick auch oft auf Schülerinnen und Schüler. Das betrifft dann natürlich auch die berufliche Bildung. Insofern sind das die Felder, mit denen ich mich beschäftige.
ANDREA SPIEGEL: Das wollte ich gerade sagen: Wir haben es schon im Vorgespräch ein bisschen besprochen – Schule ist das eine Thema, aber im Grunde geht es um Lernen im Allgemeinen und darum, wie man Medien in diesem Kontext sinnvoll einsetzen und nutzen kann. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die berufliche Bildung.
PROF. DR. MARTIN: Absolut. Wir wissen ja tatsächlich, dass der Kontext Schule sehr gut untersucht ist, und das ist, glaube ich, für den Kontext Wirtschaft und Industrie ganz interessant. Wir haben kein besser untersuchtes Feld als das Lernen von Schülerinnen und Schülern. Das liegt ganz einfach daran, dass wir es mit einer Institution zu tun haben, in der wir strukturell seit vielen Jahrzehnten Menschen zwingen.
Von daher haben wir ein hervorragendes Forschungsfeld, und da Lernprinzipien grundsätzlich übertragbar sind, müssen diese natürlich kontextsensibel betrachtet werden. Überlegt werden muss, was wirklich trägt und sich eignet. Aus meiner Sicht lässt sich das, was wir in der Schule erforscht haben, auch auf die mir fremderen Kontexte der Industrie übertragen – auch wenn dies nicht mein ursprünglicher Bezugskontext ist.
ANDREA SPIEGEL: Perfekt. Vielen Dank für die Einführung und das Erklären, worin du tätig bist.

ANDREA SPIEGEL: Jetzt habe ich zum Kennenlernen noch eine Frage mitgebracht. Ich habe zwar schon eine Vermutung, was deine Antwort wäre, aber wenn du nicht Professor geworden wärst, was wäre denn dein anderer Traumberuf gewesen?
PROF. DR. MARTIN: Ja, das ist fast zweigeteilt, muss man sagen, beide Berufe standen auf Rang Nummer eins, und in beiden hatte ich mal meine Füße drin. Das eine ist Lehrer – das ist nachvollziehbar – und das andere wäre tatsächlich Offizier gewesen. Ich gehöre noch zur Generation, die Grundwehrdienst leisten durfte. Das habe ich auch getan, und es hätte durchaus in eine berufliche Laufbahn in diesem Bereich münden können. Ich bin dann aber in Richtung Schule abgebogen, Lehrer geworden und nie in der Schule gelandet – bin dann in der Hochschule geblieben.
ANDREA SPIEGEL: Sehr schön. Auf jeden Fall wären Alternativen da gewesen.
PROF. DR. MARTIN: Ja, es hätte welche gegeben. Ob sie dann getragen hätten, weiß man natürlich im Nachhinein nicht, aber jetzt ist es so gekommen, und das ist auch ganz gut so.
ANDREA SPIEGEL: Ich würde sagen, das passt, glaube ich, ganz gut so.

ANDREA SPIEGEL: Wie sieht es denn jetzt aus? Ich meine, ich habe gerade schon gesagt, dieses Thema scheint mir erstmal relativ komplex. Was ist denn KI-gestützte Diagnostik und was hat sie mit Bildung zu tun? Können wir da vielleicht mal anfangen?
PROF. DR. MARTIN: Ja, vielleicht klammern wir es ein bisschen auf. Also im Wesentlichen reden wir ja über künstliche Intelligenz. Das würde ich jetzt mal gar nicht so weit aufmachen, weil es vermutlich an der einen oder anderen Stelle auch schon passiert ist, jetzt im Rahmen dieser Reihe, und auch so allmählich auf etwas wie einen Common Sense stößt. Es gibt also mittlerweile mehr als nur Küchenhypothesen, die jeder für sich hat, was KI eigentlich sein könnte. Wir sind ja stark von ihr umgeben.
Wir hier im Kontext der Diagnostik im Bereich Bildung sprechen im Wesentlichen über KI-gestützte Tools. Das sind Tools, die auf KI-Anwendungen Bezug nehmen und zum Zweck des Lernens verwendet werden. Man kann es sich einfach so vorstellen: Lernerinnen und Lerner geben in dieses Tool etwas ein, was gerade Lerngegenstand ist. Nehmen wir es mal einfach – ich will eine Sprache lernen, fülle einen Lückentext aus und KI-gestützt wird erkannt, was nicht nur richtig oder falsch ist (das konnten Programme vor 20 Jahren auch schon), sondern auch, was das spezifische Lernmuster der Person ist, die gerade etwas eingibt.
ANDREA SPIEGEL: Also, welche Fehler macht er zum Beispiel besonders häufig und wo ist er besonders gut?
PROF. DR. MARTIN: Ganz genau, richtig. Es gibt also eine sehr schlüssige, unmittelbare Rückmeldung und Reaktion– eine adaptive Anpassung der Software und des Lernangebots. Zum Beispiel könnte der Lückentext im Niveau entweder verringert oder erhöht werden, sodass es tatsächlich personalisiert ist, als es eine Lehrkraft für 20, 30 Menschen parallel steuern könnte. Im Prinzip machen diese Tools das, was gute Pädagoginnen und Pädagogen auch versuchen würden, nämlich so differenziert wie möglich ein Angebot zu machen. Über diese Art von Tools sprechen wir im Kontext der Bildung.
Vielleicht noch ein letzter Punkt: Der Begriff „Diagnostik“ steckt da ja auch drin. Es geht nicht nur um die Selbstdiagnostik der Lernerinnen und Lerner, die das Angebot nutzen, sondern auch um eine Art Meta-Überblick für die Lehrenden. Ein klassischer Lehrer erhält eine systematische Rückmeldung über seine Lerngruppe: Wo steht sie eigentlich? Wo steht der Einzelne? Wie lässt sich das vielleicht von vergleichbaren Lerngruppen abgrenzen? Das führt zu einer Art Wettbewerbsvergleich. Auch wenn es in der Schule nicht so hochgehangen wird, ist es am Ende ein kompetitives Feld – um zu sehen, wo wir in Bezug auf unseren Leistungsstand im Vergleich zu anderen stehen. Und da wird es sehr potenzialträchtig, aber auch gleich sehr kritisch, weil wir dann natürlich über Fragen des Datenschutzes sprechen müssen: Was wird an Leistung gespeichert und wer bekommt welche Informationen?
ANDREA SPIEGEL: Wie zuordenbar ist es später noch der einzelnen Person?
PROF. DR. MARTIN: Genau, wie zuordenbar ist es der einzelnen Person und dergleichen mehr. Diese Fragen verhindern momentan sicherlich auch ein Stück weit das transformative Potenzial, das mit diesen Tools verbunden ist. Aber vielleicht ist es auch ganz gut so, dass das so ist. Es ist eine offene Frage, die man nicht klar beantworten kann und die stark normativ gerahmt ist. Es ist eine Grundsatzfrage, die weit über Lernkontexte hinausgeht: Wie wollen wir, in welchem Verhältnis, wollen wir eigentlich zu unseren Daten stehen, wenn sie digital verfügbar sind und KI-gestützt sind?
ANDREA SPIEGEL: Das ist ja heute schon so im Netz, dass man gerne sagt: „Ja, das ist kostenlos, du musst nur deine Daten da lassen.“ Da kann man sich auch fragen, ob Daten nicht eine neue Währungsform sind.
PROF. DR. MARTIN: Das ist genau richtig, was du sagst. Meines Erachtens ist der größte Trugschluss zu glauben, dass das Internet frei und kostenlos wäre. Nein, genau, wir zahlen mit jedem Klick, den wir machen. Ich gehöre eher zu denen, die es pragmatisch sehen und sagen: So hat sich diese Infrastruktur entwickelt, und das ist sie. Ich denke, es ist für diese Kontexte ganz gut und sinnvoll, zu schauen, wo wir Potenziale haben, mit denen wir vielleicht gut arbeiten können – aber dafür müssen wir einen Preis zahlen. Zu glauben, es gäbe gewissermaßen reformpädagogische Idealfreiheiten bei gleichzeitigem Transformationspotenzial von KI-gestützten Hochfrequenztechnologien, wird nicht funktionieren. Insofern braucht es Mittelwege. Alle Perspektiven sind gerechtfertigt. Ich vertrete den Standpunkt, dass wir gut beraten wären, dieses Potenzial zu nutzen – vor allem im Sinne der Lernerinnen und Lerner. Wir können gerade in bildungsbenachteiligten Milieus kaum spezifischere Rückmeldungen geben, als wenn wir genau wissen, wo der „Hase im Pfeffer“ liegt, mit Blick auf einen bestimmten Fachgegenstand. Von daher: Ich wäre dafür.
ANDREA SPIEGEL: Ich arbeite im Marketing, ich bin voll dafür, dass wir Daten sammeln, aber ich verstehe das natürlich. Gleichzeitig bin ich auch die Erste, die alle Cookies ablehnt, weil ich weiß, was dahintersteckt. Deswegen ist es immer ganz spannend. Man muss sich einfach bewusst machen, was das heißt, wenn man sich in diesem Umfeld bewegt – was man da mit den Daten bezahlt und wie das funktioniert. Also auch Medienkompetenz ist da eine sehr wichtige Frage.
PROF. DR. MARTIN: Absolut. Und vor allem auch die Bereitschaft, anzuerkennen, dass wir vielleicht stärker eigene Plattformen im Bildungssystem akzeptieren müssen, die sich dann im Interface sicherlich von den Oberflächen unterscheiden, die wir privat nutzen. Es wird am Ende nicht so aussehen wie Instagram, wenn wir über Moodle oder andere Lernplattformen sprechen, aber wenn sie gut genutzt werden, können sie ein ähnliches Potenzial haben. Und dann haben wir auch das Cookie-Problem nicht, weil das auf einer Internetinfrastruktur gar nicht erst beantwortet werden muss.
ANDREA SPIEGEL: Das ist dann wieder anders.
PROF. DR. MARTIN: Ganz genau, richtig. Und ich denke, das muss einfach vorausgeschickt werden, damit wir nicht zu pauschal werden. Es ist ein großer Unterschied, ob wir über minderjährige Lernerinnen und Lerner im Pflichtschulwesen sprechen oder über fortgesetztes berufliches Bildungslernen, das ja ein Stück weit eine freiwillige Entscheidung ist, wie zum Beispiel ein duales Studium oder eine duale Ausbildung.
ANDREA SPIEGEL: Oder weil eine neue Technologie schräg von der Seite reinkrätscht und ich mich vielleicht weiterbilden muss.
PROF. DR. MARTINFort- und Weiterbildunglebenslanges Lernen, sind sicherlich ein großer Grund, warum wir das stärker machen müssen. Digitale Transformation und genau das, was du gesagt hast. Also, genau – Cookies nicht mögen, es klingt so selbstverständlich, aber es ist ja gut untersucht. In der Regel wird es akzeptiert, und zwar alles blind.
ANDREA SPIEGEL: Ja, wie gesagt, im Marketing sind wir dankbar dafür, aber ich kann das sehr gut nachvollziehen. Und ich verstehe auch die unterschiedlichen Perspektiven. Es gibt eine Motivlage, von der man sich wünscht, darauf zurückzugreifen.
PROF. DR. MARTIN: Das ist ja, ich finde auch grundsätzlich legitim, dass jede Krankenkasse für sich ein Interesse daran hat, so individuell wie möglich gesundheitsbezogene Daten zu haben. Ich glaube, auch hier sind wir insgesamt besser beraten, wenn wir diese Felder nutzen, um Lernerinnen und Lerner zu vermitteln, dass sie sich selbst ermächtigen müssen. Zu glauben, wir könnten es regulieren und kontrollieren, wird sicherlich nicht funktionieren – sowohl bei KI-Tools als auch in der digitalen Infrastruktur insgesamt.

ANDREA SPIEGEL: Jetzt hast du schon gesagt, dein Schwerpunkt liegt eigentlich eher in der Kinder- und Jugendbildung, sage ich mal. Wir wollen ja heute das Thema noch ein bisschen mehr im Kontext der beruflichen Bildung anschauen. Du hast es, glaube ich, am Anfang auch schon gesagt und im Vorgespräch nochmal erwähnt: Lernen und Bildung sind erstmal generelle Themen, die nichts mit dem Alter zu tun haben. Was sind denn die Prinzipien, die man dabei beachten sollte, gerade wenn wir jetzt vielleicht auch in die moderne Welt blicken? Du hast schon gesagt, nur weil ich jetzt lerne, heißt das ja nicht, dass ich nur noch mit dem Tablet da sitze. Papier und Stift sind auch Medien und können ihre Berechtigung haben. Was würdest du sagen, was sind die wichtigsten Dinge, die man in der beruflichen Bildung beachten sollte? Geht es nachher um den Medienmix? Sollte der Fokus vielleicht doch stärker auf digitalen Medien liegen? Oder was ist da so dein Erfahrungsschatz?
PROF. DR. MARTIN: Also, da braucht es gar keinen ganz subjektiven Erfahrungsschatz, sondern wir haben mittlerweile genug Evidenz, auf die wir uns stützen können, um zu sagen, was genau funktioniert und was nicht. Es gab sicherlich für eine Dekade eine starke Überschätzung der Potenziale digitaler Tools, insbesondere auf einer Ebene, die immer angenommen hat, dass digitale Technologien wirklich eine neue Form des Lernens schaffen, die dann auch gleichzeitig besser ist. Und das ist der lerntheoretische Trugschluss: zu glauben, dass etwas, weil es neu ist, auch gleich besser ist. Was heißt „besser“ in unseren Kontexten? Es bedeutet, dass der Gegenstand, um den es geht, besser auf den relevanten Wissensebenen durchdrungen wird. Ich kann ihn besser wiedergeben, ich habe ihn verstanden, kann ihn an Vorwissen anknüpfen und auf andere Gegenstände transferieren. Also, klassische Lernfelder, die wir in den Kompetenzbereichen fassen können.
Das ist aber nicht per se immer der Fall. Man muss sich immer den einzelnen Gegenstand anschauen und überlegen, wo das Mehrpotenzial wirklich liegt. Ich mache ein ganz pragmatisches Beispiel, das, glaube ich, gut veranschaulicht, worum es geht, weil es in den unterschiedlichsten Bildungskontexten von der Grundschule bis zur Fortbildung gern verwendet wird. Typische Phasen, in denen ein Thema erarbeitet oder vorgestellt wird von der lehrenden Person, dem Referenten oder Fortbildner. Danach geht es darum, in einer kleineren Gruppe eine Position zu entwickeln – ein Fallbeispiel wird vorgestellt, und ich soll dazu eine Position entwickeln. Diese soll in der Gruppe diskutiert und am Ende präsentiert werden. Das kennt man von der Klasse 2 bis zur Klasse 13. Das kommt in jedem Kontext vor, in Universitäten, in Hochschulen, also ist relativ allgemein. Wir wissen aber gut, dass in diesen Gruppensituationen ziemlich schnell unterschiedliche Zugriffsformen relevant werden, insbesondere in Bezug darauf, wer eigentlich die Meinung setzt und platziert.
ANDREA SPIEGEL: Da gibt es dann bestimmte Rollen, die man irgendwann einnimmt, genau, klar verteilte Rollen.
PROF. DR. MARTIN: Genau, und das können Klassenlehrer übrigens auch ziemlich schnell erkennen. Sie können nach kurzer Zeit verlässlich sagen, welche Meinung von wem kommt und welche Ergebnisse die Gruppe produziert. Die Zahlen hierzu sind statistisch signifikant. Und das geht am eigentlichen Ziel dieser Methode vorbei. Das Ziel und der Gegenstand dieser Methode wäre es ja, eine Meinungsvielfalt zu erzeugen, sich in Resonanz zu bringen, eine eigene Meinung zu entwickeln, sich in Gegenrede zu üben, aber auch auf Gegenrede einzugehen. All das, was wir an Diskursfähigkeit brauchen – ein Bedarf, den wir heute mit Hochdruck erkennen können.
ANDREA SPIEGEL: Eine gesellschaftliche Kompetenz, die wir alle brauchen.
PROF. DR. MARTIN: Ja, genau, richtig. Und diese Fähigkeit ist sicherlich herausfordernd. Ein gutes Beispiel dafür ist der Einsatz digitaler Tools in solchen Phasen. Diese Tools ermöglichen es, anonym eine Meinung zu formulieren. Es gibt eine Reihe von solchen Tools, Mentimeter zum Beispiel, die eine solche Möglichkeit bieten. Die Logik dieser Tools führt zu einer breiteren Meinungsvielfalt. Und das ist zunächst nur ein kleiner Mikromoment, aber ich finde, ein pragmatisches Beispiel, bei dem wir sehr genau wissen, dass der Einsatz digitaler Tools einen echten Mehrwert bietet – nämlich in der Bereitschaft und Fähigkeit, die eigene Meinung in einer logischen Gegenrede sichtbar zu machen.
ANDREA SPIEGEL: Erstmal zu platzieren, ja.
PROF. DR. MARTIN: Genau, und das ist ein zentrales Lernziel. Danach geht es natürlich weiter. Die Frage, wie ich diese Meinung ausdifferenziere, dazu brauche ich dann vielleicht kein Tablet, vielleicht auch keine KI, sondern das funktioniert dann vielleicht wieder im Klassengespräch oder im direkten Gespräch.
ANDREA SPIEGEL: Oder einfach mal machen, und so weiter.
PROF. DR. MARTIN: Genau, aber dieser kleine Mikromoment, das methodische Setting im Lernprozess, ist wirklich der Punkt. Wenn wir diese Situationen betrachten, merken wir, dass sie nicht einfach durch einen funktionsgleichen Ersatz ersetzt werden. Ich kann meine Meinung auch auf ein Blatt schreiben, aber der Faktor der Anonymität, den nur digitale Tools realistisch gewährleisten können, spielt hier eine wichtige Rolle. Wir kennen das aus der Schule: Vor der Digitalisierung gab es Scheinanonymisierung. Da hieß es dann: „Jetzt geht mal jeder hinter die Tafel oder zu einer Flipchart und schreibt seine Meinung auf.“ Aber in einer Gruppe von 20 Leuten, die sich schon seit Jahren kennen, war es schnell klar, wer was geschrieben hatte. Heute wissen wir, dass das nicht funktioniert.
ANDREA SPIEGEL: Das funktioniert nicht auf die Art, wie man sich das vorstellt.
PROF. DR. MARTIN: Genau. Es tut nicht das, was es tun soll. Man kann dafür Gründe finden, es so zu machen, aber es suggeriert etwas, das in der Realität nicht nachweisbar ist. Und das ist aus meiner Sicht ein Beispiel, bei dem wir das Transformationspotenzial erkennen können. Das wird aber nicht immer und überall der Fall sein. Heute erleben wir in der Schule oft, dass Tablets eingesetzt werden, um zu sagen: „Na, dann mache ich meine Annotationen dort.“ Also, ich schreibe das nicht mehr ins Heft, sondern ins Tablet. Wir wissen gut, dass das in den meisten Fällen kein Problem darstellt, aber es wird eher nicht zu einer Veränderung des Lernens führen, weil es im Grunde nur ein funktionsgleicher Ersatz ist. Es macht keinen Unterschied, ob ich etwas ins Heft schreibe oder ins Tablet.
ANDREA SPIEGEL: Das sagt man ja auch immer bei der Digitalisierung: Wenn ich einfach nur einen schlechten Prozess digitalisiere, habe ich danach einen schlechten digitalen Prozess.
PROF. DR. MARTIN: Genau, richtig.
ANDREA SPIEGEL: Ich meine, Schreiben ist ja an sich nicht verkehrt. Es ist ja auch wichtig für die Gehirnverknüpfungen und alles, was da eine Rolle spielt. Aber, wie du sagst, einfach nur auf einem anderen Gerät zu schreiben, ändert erstmal nichts an der Sache selbst.
PROF. DR. MARTIN: Genau. Es mag ja andere Gründe dafür geben, das zu tun. Wenn es darum geht, Kollaboration und Kooperation zu fördern, also wenn ich die geschriebenen Inhalte schnell miteinander verknüpfen möchte, dann gibt es durchaus einen Grund, das digital zu tun. Aber der eigentliche Prozess der Hand-Auge-Koordination beim Schreiben wird nicht zu anderen mentalen Repräsentationen führen, als wenn ich es im Heft tue.

ANDREA SPIEGEL: Du hast jetzt gerade gesagt, es geht am Ende eigentlich darum, Mehrwerte zu schaffen und wirklich Probleme zu lösen, die wir in der Bildung – egal, in welchem Kontext wir die jetzt betrachten – verändern und verbessern müssen. Ich stelle mir das so vor: Geht man eher vom Problem heran, also man sagt, wir haben ein Problem, zum Beispiel bei der Meinungsäußerung, und überlegt dann, wie man das löst? Oder ist es eher so, wie du gesagt hast, dass man vielleicht ein digitales Tool einführt, mit dem man etwas ganz anderes lösen wollte, es ausprobiert und dann seine Schlüsse daraus zieht? Was kommt häufiger vor – eher diese Problem-Herangehensweise oder zunächst die Idee für ein Tool und dann mal gucken, was passiert?
PROF. DR. MARTIN: Also, der typische Weg – man muss die Kontexte ein bisschen differenzieren. Der typische Weg in der Schule und in breiteren Bildungskontexten ist in der Regel, dass man sagt: “Dann gucken wir doch mal, was das Tablet hergibt und wo gibt es scheinbar ganz gute Anknüpfungsmöglichkeiten, es überhaupt erst mal zu nutzen.” Da landet man dann sehr schnell zum Beispiel in der Office-Welt und hat diese Anwendungen, die man vielfältig nutzen kann. Tatsächlich spezifisch von einem Problem auszugehen, das ist eher der Fall bei Tools, die speziell zur Unterstützung entwickelt wurden – zum Beispiel bei KI-gestützten Diagnosetools, wo man wirklich sagt: “Haben wir nicht etwas, wo wir für dieses und jenes Fach einen Mehrwert generieren können?” Und der entscheidende Punkt ist: Es muss fachspezifisch sein.
Wir wissen ganz gut, dass sich Kompetenzen domänenspezifisch entwickeln. Es ist also nicht dasselbe, ob ich ein bisschen Deutsch, ein bisschen Mathe, ein bisschen Englisch oder ein bisschen Marketing mache. Im Kern verläuft die Kompetenzentwicklung in einem Fach innerhalb der jeweiligen Domäne, und das ist die große Schwierigkeit. Denn in der Regel haben wir es mit digitalen Anwendungen zu tun, die nicht spezifisch aus einem Fach kommen. Man denkt schnell an eine “Deutsch-Seite“, aber das ist natürlich Quatsch. Es ist keine Heftseite in Deutsch, sondern eine allgemeine Anwendung, die ich in allen möglichen Kontexten verwenden kann. Hier liegt sicherlich noch viel Potenzial, weil die Tools, die es gibt, spezifisch erworben werden müssen. Das sind in der Regel keine frei verfügbaren kommerziellen Tools. Wenn sie das nicht sind, sind sie sehr gut und einsetzbar für den öffentlichen Bildungssektor – mit allen seinen Regularien und dem Commitment, das man in einem großen Kollegium erzeugen muss, das von Zustimmung und Skepsis abgeholt werden muss. Aber letztlich wird es in der Praxis oft schwierig, da viele nicht mitziehen. Besonders im Kontext der beruflichen Bildung wird der Einfluss von Industrie und Unternehmen spürbarer. Das hat sicherlich etwas damit zu tun, was die Unternehmen brauchen, wenn die Lernenden in zwei Jahren fest bei ihnen im Unternehmen arbeiten sollen.

ANDREA SPIEGEL: Was mich auch interessiert: Ich habe gerade auch schon die ganze Zeit so ein bisschen nebenher darüber nachgedacht. Man sagt ja oft, man sollte nicht unbedingt immer versuchen, Schwächen auszumerzen, sondern eher zu schauen, wo die Stärken liegen und wie man diese weiter fördern kann. Gerade in der beruflichen Bildung stelle ich mir das noch wichtiger vor, weil wir müssen ja nicht alle Experten für alles sein. Experten ist ja sowieso ein Begriff, der oft problematisch ist. Es geht eher darum, dass man für die Anforderungen in seinem Fachbereich oder für das, was man Neues entwickeln möchte, gezielt ausgebildet wird. Wie kann man dieses breite Spektrum, das jeder Fachbereich so speziell benötigt, in der beruflichen Bildung umsetzen? Und wie können eventuell KI-Tools dabei helfen?
PROF. DR. MARTIN: Also, ich glaube, für diesen Kontext – der an der Schnittstelle von Unternehmensanforderungen und den Bedürfnissen der Lernenden steht – gibt es einige Hinweise in der Literatur, dass es sinnvoll ist, an den informellen Medienroutinen der Lernenden anzuknüpfen. Wir müssen uns fragen: Was nutzen die eigentlich in ihrer privaten Welt an Tools und Zugängen? Da landen wir schnell bei den großen Social-Media-Plattformen, die eine Rolle spielen. Aber es geht auch um Organisationsformen – also: Wie wird kommuniziert und wie wird kooperiert?
ANDREA SPIEGEL: Ich wollte gerade sagen, mach mal ein Beispiel, bitte.
PROF. DR. MARTIN: Ja, klar. Was nutzen die jungen Erwachsenen eigentlich? Und wir kommen eben schnell zu Social Media, zu den großen Plattformen, aber auch zu den Kommunikationsformen, die da eine Rolle spielen – wie wird kommuniziert, wie wird zusammengearbeitet? Und es ist wichtig, auch innerhalb des Unternehmens solche Zugänge zu schaffen – auch mit den Tools, die bereits bekannt sind. Denn ein informeller Zugang zu diesen Tools hilft sehr aus motivationalen Gründen. Diese Tools sind kein Hobby mehr, sondern Teil der Lebenswirklichkeit. Und wir sprechen hier vermutlich in dieser Altersgruppe vor allem von jungen Erwachsenen – also von den hochfrequent Digitalisierten, die diese Tools als Teil ihres Alltags betrachten. Und sie erwarten auch, dass diese Tools eine Rolle spielen dürfen.
Je nach Sensibilität der Daten und den Sicherheitsanforderungen wird man sicherlich auf Intranet-Systeme zurückgreifen müssen.
ANDREA SPIEGEL: Und das Thema Datenschutz natürlich auch.
PROF. DR. MARTIN: Genau. Aber generell lässt sich sagen, dass es für die verschiedenen Kontexte gut wäre, diese Entwicklung zu würdigen und mitzuspielen. Um ehrlich zu sein, wenn man sich in Social Media bewegt, hat man oft den Eindruck, dass auch Unternehmen das tun. Es wird immer schwieriger, größere und mittlere Unternehmen zu finden, die sich diesem Trend nicht anschließen.
ANDREA SPIEGEL: Das stimmt.

ANDREA SPIEGEL: Okay, was würdest du sagen, sind sonst noch Herausforderungen, vor denen Unternehmen im Bereich der Bildung stehen können? Wo siehst du die größten Hürden? Wie du sagst, Bildung ist erstmal ein Feld für sich – da kann man mit Sicherheit auch vieles übertragen. Aber wenn wir jetzt nochmal auf den Unternehmenskontextschauen, wo würdest du sagen, sind die größten Schwachstellen und wo muss man den Schwerpunkt setzen?
PROF. DR. MARTIN: Ich glaube, da landen wir eigentlich wieder bei dem, womit wir vorhin schon gestartet sind, nämlich bei Grundsatzfragen des Lernens. Wie funktionieren wir eigentlich als Lernende und als Menschen, die sich mit Sinneswahrnehmung durch die Welt bewegen? Klingt jetzt erstmal etwas pathetisch, aber ich mache es ganz konkret.
ANDREA SPIEGEL: Das ist das Schöne an der Wissenschaft, da darf man das auch mal.
PROF. DR. MARTIN: Genau, im Elfenbeinturm darf man ja gerne abheben, aber hier geht es, glaube ich, darum, es auch ein Stück weit verständlich zu machen. Meines Erachtens kann man das ziemlich gut machen. Das, was die Digitalisierung an selbstverständlichen Potenzialen mitbringt und die auch aufgegriffen werden müssen – weil wir sonst auf unterschiedlichsten Ebenen nicht wettbewerbsfähig und anschlussfähig werden – ist gleichermaßen auch das größte Problem. Wir haben es, und auch das ist sehr evident, im Prinzip mit einem Aufmerksamkeitsfresser zu tun, der besser funktioniert als jeder andere, den wir bisher in der Menschheitsgeschichte gekannt haben. Nämlich einen, der in ganz perfektem Maß funktioniert, und wir wissen das ja aus Studien von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu ihrem Ablenkungspotenzial – und ich glaube, ich würde mich da überhaupt nicht ausnehmen.
ANDREA SPIEGEL: Ich wollte gerade sagen, da kann wohl jeder mal kurz über sich selbst nachdenken.
PROF. DR. MARTIN: Absolut, ein guter Anlass zur Selbstreflexion. In welchem Zeitfenster schafft man es eigentlich, nicht an seine digitalen Artefakte und Endgeräte zu denken, oder das, was auf ihnen gerade stattfindet oder stattfinden müsste? Und welche Rolle man gerade dabei spielt. Oder wie sehr diese Geräte auch zu kurzen oder längeren Alltagsfluchten und Zerstreuungen geeignet sind. Das kann ein legitimes privates Bedürfnis sein. Wir wissen aber sehr gut, dass es ein Aufmerksamkeitsfresser ist, der richtig Effizienz und Geld kostet. Und ich könnte mir vorstellen, dass es in der Welt, in der Zeit wirklich Geld ist, ein großer Unterschied ist. Und die Studienlage, die uns vor allem interessiert, mit Blick auf die Frage, warum funktioniert das eigentlich so genial? Also warum können gebildeteerwachseneerfolgreiche Menschen sich dieser Sogwirkung nicht so richtig widersetzen? Da kommen Grundsatzfragen des Lernens ins Spiel.
Es ist die perfekte Form der Konditionierung – mal kommt etwas, mal kommt etwas nicht. So funktionieren wir ganz hervorragend. So sind wir mit Blick aufs Lernen gepolt. Wir bekommen durch KI-gestützte Anwendungen die ideale Blase dessen, was uns scheinbar interessiert, immer wieder neu und abwechslungsreich – lauter Dinge, die dazu führen, dass wir gerne Zeit dort verbringen. Ein bisschen, man sagt ja auch, ein bisschen Dopamin fürs Hirn. Und das ist gleichzeitig das Problem. Es funktioniert sehr gut, und es ist das ideale Einfallstor, sich zu zerstreuen und abzulenken. Damit wird es auf unterschiedlichsten Ebenen zu einem echten Stressor, den ich erstmal ausblenden muss. Denn diese Geräte – selbst wenn es Betriebsgeräte sind – setzen immer auch die Assoziationskette in Gang. Das wissen wir mittlerweile sehr gut. Auch wenn das, nehmen wir mal an, ein Diensttablet ist, auf dem nichts ist außer dienstlichen oder beruflichen, also formal bezogenen Anwendungen, dann ist es trotzdem die Form, die uns sofort an das erinnert, was wir eigentlich auch abends auf dem Sofa tun würden.
ANDREA SPIEGEL: Aber wenn du jetzt gerade von einem Stressor sprichst, wäre es dann nicht eigentlich eine schlaue Idee zu sagen, ich nutze das für mich und versuche, etwas Ähnliches zu entwickeln, gerade im Bereich der Bildung? Damit die Leute sich damit beschäftigen, weil sie denken: „Ja, ist ja cool, da lerne ich sogar noch etwas nebenher.“ Oder ist das schön gedacht, aber dann doch zu viel Stress für das Gehirn?
PROF. DR. MARTIN: Zwei Ebenen. Das eine, und ich habe ja gewissermaßen schon gesagt, das muss man sogar ein Stück weit akzeptieren. Wir sind so weit, es macht überhaupt keinen Sinn, sich dagegen zu wehren. Das ist Teil unserer Wirklichkeit. Man würde ja als Pädagogin oder Pädagoge gern zur Nostalgie neigen und sagen: „Ist es nicht ein Problem, haben wir uns da nicht etwas eingebrockt, eine Büchse der Pandora geöffnet, die wir jetzt nicht mehr schließen können?“ Aber das ist irrelevant, und da bin ich recht nüchtern: Es ist völlig irrelevant. Die Katze ist aus dem Sack, das heißt, das ist alles da. Es ist in der Welt und gekommen, um zu bleiben. Es wird mehr werden, es wird substanzieller werden. Also müssen wir uns dazu in ein Verhältnis setzen. Und das kann in aller Grobheit nur so funktionieren, dass wir das Motivationspotenzial in einer Form adaptieren, indem die Infrastrukturen, die wir nicht privat nutzen, den privaten ähneln, weil das die Erwartungshaltung ist, die wir haben. Also wenn etwas heute so aussieht, wie Windows 98 nach dem ersten Update?
ANDREA SPIEGEL: Genau. Da gibt es bestimmt auch noch manche, die das anspricht, aber die meisten wohl eher nicht. Aber dann eher aus historischem Interesse.
PROF. DR. MARTIN: Genau. Aber dann wird das nicht funktionieren. Das wissen wir auch recht gut – es wird ganz einfach nicht funktionieren.
ANDREA SPIEGEL: Also User Interface.
PROF. DR. MARTIN: Ganz genau, das ist ganz entscheidend. Und das Problem dabei ist, dass es uns sofort triggert mit Blick auf die Interfaces, die wir für Dinge nutzen, die erstmal nichts mit dem zu tun haben, was wir gerade machen sollen. Und das ist keine Abwertung, es ist völlig legitim. Wir tragen Bedürfnisse eben auch an den digitalen Raum und ihre Befriedigung ganz genau so. Insofern passt das alles, es ist alles in Ordnung. Wir müssen es nur zur richtigen Zeit und im richtigen Maß machen. Und das ist ein Trainingseffekt. Der lässt sich tatsächlich auch trainieren.
Am Ende landen wir bei Grundsatzfragen von Selbstdisziplin und von Zugängen zum Lernen. Also, wie kann ich mich eigentlich auch im Kontext der Störung auf Lernen konzentrieren? Und das ist etwas, von dem wir in der Schule schon stark wissen, dass es ein Fokus ist. Und ich glaube, dass wir erwachsene Lernende, die genauso vor der Herausforderung stehen, sich mit diesen permanenten neuen Aufmerksamkeitsfressern und Absorptionsquellen auseinanderzusetzen, eigentlich wieder in Lerntrainings schicken müssten.

ANDREA SPIEGEL: Das wollte ich jetzt gerade fragen, weil ich sage mal, ich gehe mal von mir selbst aus. Ich finde, man merkt es auch manchmal, dass man in Stresssituationen, also wenn einfach viel los ist, man viele Termine hat zum Beispiel, und von einem zum anderen geht, dass man manchmal die Zeit dazwischen gar nicht nutzt, um mal durchzuatmen und runterzufahren. Aber man nimmt dann auch noch das Ding in die Hand und beschäftigt sich weiter damit. Wie würdest du sowas angehen? Du hast jetzt gerade schon gesagt, diese Strukturen aufzubauen ist hilfreich, um das Lernen wieder zu lernen. Wie lerne ich denn das Lernen wieder? Und vor allem in einer Unternehmensumgebung, sage ich mal, wo ich ja auch einen Job zu erledigen habe und nicht einfach sagen kann: „Ich nehme mir jetzt mal Zeit und lerne erst mal wieder, wie man lernt.“

PROF. DR. MARTIN: Also die wichtigste damit verbundene Aussage, und da sind wir wieder bei den Grundsatzfragen des Lernens und der Lehr-Lern-Forschung, ist eine relativ unbefriedigende: Schnell geht gar nichts. Wir können gegen gewohnte Routinen, die wir so stark internalisiert haben, nicht einfach ankämpfen. Ein typisches Beispiel: Man hat eine Minute Zeit und nutzt diese eine Minute, um zu prüfen, wie viel E-Mail-Stress in den letzten 20 Minuten entstanden ist, ohne auch nur ansatzweise die Chance zu haben, darauf jetzt zu reagieren. Es macht keinen Unterschied, es zu wissen. Also ich würde da, ich finde es auch immer gut, das selbstkritisch zu sagen, da mache ich gar keinen Hehl draus. Das ist das Erste, was ich gleich, bevor ich wieder an meinen Campus fahre, tun werde: Einmal schauen, was ist in der Zwischenzeit passiert.

ANDREA SPIEGEL: Auch reich verpasst, ja.

PROF. DR. MARTIN: Quatsch. Es gibt keinen Grund, sich für so wichtig zu nehmen, als dass man das gerade wissen müsste. Und trotzdem wird es passieren. Also heißt es, wir haben das erstens ziemlich stark internalisiert, weil dieses Lernen eben mit Hochdruck adaptiv passiert. Es sind die besten Gewohnheitsstrukturaufbauer. Und insofern müssen wir ein Stück weit in enger Begleitung und bestenfalls, und das wissen wir, in einer Kollaborationsstruktur, arbeiten. Das heißt, in einem Team-Setting, in dem so etwas zur gelebten Kultur wird. Es gibt dann kleinere Sparing-Teams, die sich nach diesen Lerntrainings gegenseitig darauf hinweisen, sich nicht ablenken zu lassen.

ANDREA SPIEGEL: Also erstmal quasi Bewusstsein dafür schaffen, dass man das überhaupt tut?

PROF. DR. MARTIN: Genau. Das funktioniert in den allermeisten Fällen. Wenn wir uns hier, würden wir auch sofort ein Commitment abgeben, alles klar, offensichtlich gibt es ein kleines Problem. Es fällt uns nicht so richtig auf, aber es gibt irgendwie ein kleines Problem. Wenn das jetzt ernst gemeint weitergehen soll, braucht es Sparing-Partner, die einen in der relevanten Kernzeit umgeben und wechselseitig aufeinander Acht geben. Das ist ein typisches Einfallstor. Bei erwachsenen Lernern wissen wir, dass man recht gut aufeinander achten kann. Der Disziplinierungseffekt einer Gruppe – im gut gemeinten Sinne – kann stark sein. Das ist etwas, auf das man setzen kann, also einen Kick-Off zu machen, völlig klar. Ein Unternehmen kann ja nicht sagen: „Jetzt machen wir acht Wochen nichts anderes als Achtsamkeitstraining, und dann treffen wir uns hier wieder und machen weiter unsere Arbeit.“ So wird das nicht laufen, das wird nicht funktionieren.

ANDREA SPIEGEL: Ich kann zum Beispiel innerhalb meines Marketing-Teams sagen: „Hey Leute, wir sollten mal gegenseitig darauf achten, wo wir uns ablenken lassen.“

PROF. DR. MARTIN: Ganz genau. Also wir haben ja in… da kann ich überhaupt nicht, das ist jetzt mit einem kleinen Augenzwinkern gesagt, aber wir haben ja in Klassen gerne und häufig die Diskussion: „Wohin eigentlich mit den Endgeräten, also mit den privaten Endgeräten, wenn sie gerade nicht genutzt werden?“

ANDREA SPIEGEL: Die man ja gar nicht mitbringen darf.

PROF. DR. MARTIN: Genau, die man manchmal gar nicht mitbringen darf, aber die trotzdem da sind. Auch das können Formate sein, die in Unternehmen oder in betrieblichen Kontexten vielleicht an der einen oder anderen Stelle das Potenzial haben, vorsichtig andere Routinen aufzubauen. Man darf nicht zu salopp mit Routinen umgehen, wenn man sich mit Lernen auseinandersetzt. Das ist wirklich harte Arbeit – wie alles. Etwas zur Gewohnheit zu machen, ist ein hartes Stück Arbeit. Vor allem, und das ist das Problem: Je älter wir werden, desto schwieriger wird es. Eine Fünklässlerin hat es da viel einfacher als eine 35-Jährige, die diese Routinen schon hat und damit auch ein Stück weit schon erfolgreich gefahren ist.

ANDREA SPIEGEL: Das ist auch wie beim Versuch, eine Diät zu machen oder Sport zu treiben. Es ist nicht so, dass keiner Zeit dafür hätte.

PROF. DR. MARTIN: Genau, nein. Wir können das ganz gut übertragen. Aber es gibt eben kein Einfallstor, das so genial und, da landen wir wieder bei KI, so algorithmisiert und perfekt personalisiert das ideale Angebot macht, das uns genau das bietet, was wir gerade brauchen, um nicht das zu tun, was wir eigentlich tun sollten oder wollten. Das heißt, ein Stück weit auch nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein. So könnte man das eigentlich sagen.
Und ausgehend davon würde ich klar sagen: Diese Art von „Wir machen das mal zu einem gemeinsamen, benannten Problem“ – denn ich könnte mir vorstellen, das ist aber jetzt sehr gemutmaßt – es ist ja auch ein bisschen Lifestyle, zu sagen: „Ich überlege, was muss ich in meinen zwei Minuten tun?“ Das könnte in der Welt der wissenschaftlichen Community auch eine Diskussion auslösen, zum Beispiel auf Konferenzen. Das kann auch schnell den Anschein von Wichtigkeit erwecken.

ANDREA SPIEGEL: Ich bin so wichtig, dass ich gar nicht mal die zwei Minuten nutzen kann.

PROF. DR. MARTIN: Auch in unserer Welt würde ich sagen, dass auf Konferenzen selten jemand sagt: „Wenn ich nicht gerade in einem Gespräch bin, gehe ich einfach mal raus, trinke eine Tasse Kaffee für 15 Minuten und mache nichts.“ Das wird nicht vorkommen. Das ist ein Bild, das sicherlich auch mit Rollenerwartungen zu tun hat. Dünnes Eis, aber ich relativiere das. Ich könnte mir vorstellen, dass es betriebliche und unternehmensbezogene Kontexte gibt, die ähnlich funktionieren. Wenn wir bei der beruflichen Bildung landen, würde ich zwei Kernstrategien verfolgen. So viele digitale Tools wie möglich funktional einsetzen und sie zugleich zum Reflexionsanlass nutzen, um, im konstruktiven Sinne, Abstand von digitalen Tools zu nehmen, wenn ich sie gerade nicht nutzen will. Diese beiden Ansätze müssen sich eigentlich gegenseitig bedingen. Das klingt erstmal paradox: Ich hole mir mehr von der „Droge“, um sie auf anderer Ebene kürzer zu halten. Aber anders wird es nicht gehen.

ANDREA SPIEGEL: Ich wollte gerade sagen, aber du hast jetzt auch gesagt, die KI wird ja auf der einen Seite, oder auch die ganzen Algorithmen, die in Social Media und so weiter vorherrschen, die könnte man ja eigentlich auch umgedreht für sinnvolle Dinge nutzen. Also ich finde, bei Social Media wird ja auch gerne alles verteufelt, es ist alles schlimm und das kann man nicht klären.
PROF. DR. MARTIN: Das war aber gar nicht mein Ansatz.
ANDREA SPIEGEL: Nein, also das wollte ich dir nicht unterstellen, sondern das ist ja gerne auch so eine Art Common Sense. Gleichzeitig kann ich ja auch selbst entscheiden, wie ich das nutze, also welchen Seiten ich folge, welche Themen ich mir dort anschaue und so weiter. Wäre es da nicht auch sinnvoll, diese Art von Algorithmus, also vielleicht ist es dann auch wieder anders schlecht, aber das quasi für die Bildung zu nutzen? Man könnte ja diese Art von Algorithmen, die eben lernen, wie du sagst, dieses nachverfolgende LernenKI, die dann eben meinen Lernstrang sozusagen an meine Verhaltensweisen anpasst und so weiter, vielleicht auch mal sagt: „Konzentrisch dich mal“ oder ich weiß nicht genau. Gibt es sowas? Ist das sinnvoll? Oder sagst du, das geht nicht ganz in die richtige Richtung?
PROF. DR. MARTINAbsolut, das gibt es. Also ein Stück weit ist ja eigentlich schon die Frage, welchen Influencerinnen und Influencern ich gegebenenfalls folgen will. Auch da kann man sich ja durchaus eine Melange zusammenstellen, bei der man sagt: „Eigentlich vertreten die jetzt gerade die Position, die ich brauche, nicht die, die mich am besten unterhalten.“ Man könnte ja gezielt, also dieses Experiment könnte man mal machen. Das ist ein guter Punkt. Ich habe jetzt keine validen Erfahrungen, aber man könnte es genau so machen. Also selbst eine kommerzielle Instagram-Nutzung könnte man ja so zusammenstellen, dass man sagt: „Was sind eigentlich die Aufgaben, an denen ich gerade wirklich arbeiten muss, also was brauche ich?“
ANDREA SPIEGEL: Welche Problemstellungen habe ich?
PROF. DR. MARTIN: Welche Themen sind wichtig? Welche Problemstellungen habe ich? Was ist eigentlich genau? Und dann nimmt man sich ein bisschen Zeit und kompiliert das so zusammen, dass man nur diesen Themen folgt und allen anderen nicht. Also man folgt allen Einfallstoren dafür nicht.
ANDREA SPIEGEL: Ein Lernkanal quasi, wie es sich so nennt.
PROF. DR. MARTIN: Ja, ganz genau. Also eigentlich eine spannende Frage, wenn man so überlegt. Das könnte sicherlich etwas sein, von dem man sagt: „Man muss mal gucken, auf welcher Flughöhe, wie lange das stabil bleibt“, aber könnte sicherlich etwas sein, von dem man sagt, dass man das auch instrumentalisieren kann. Aber man muss immer sehr deutlich sagen, und das kann sicherlich auch ein Training sein, dass solche Einheiten, wie wir sie mit Schülerinnen und Schülern machen würden, immer so aussehen: sich bewusst in ein Verhältnis zu setzen, die Frage zu stellen: „Will ich das eigentlich gerade?“ Also das immer wieder zu tun. Mit ZeitMußeLehrerinnen und Lehrern im Hintergrund, Sparingpartnern funktioniert das. Aber sich das überhaupt erstmal zu vergegenwärtigen und dazu eine gelebte Routine zu machen, das ist schon der Schritt. Ich glaube sogar, dass die Verhaftung oder Verortung in betrieblichen Kontexten und Teams eine echte Chance sein kann. Privat ist es natürlich nochmal viel schwieriger. Allein zu Hause, zu zweit zu Hause, in einer kleineren Gruppe zu Hause, die noch dazu mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen ausgestattet ist und nicht zwangsläufig dasselbe formale Ziel verfolgt, ist das eigentlich schwieriger. Aus meiner Sicht könnten betriebliche Kontexte beides gut tun: den formalen Nutzen des Lernens heben, aber gleichzeitig auch disziplinierenden Abstand üben, um den Stress der Digitalisierung kurz zu halten oder kürzer zu halten.
ANDREA SPIEGEL: Kürzer zu halten, ja, ganz weg muss er ja gar nicht, er gehört ja auch zu unserem Leben dazu. Und wir haben ja schon gesagt, was erstmal da ist, geht auch nicht mehr unbedingt so schnell wieder weg.
PROF. DR. MARTIN: Ja, das sind dann auch so Diskussionen, wie: „Natürlich ist die Welt stressiger und hektischer geworden.“ Aber so wiederkehrende Kultur-Pessimismus-Debatten, zu sagen: „Früher war weniger Verkehr“, oder „Früher gab es auch nicht so viele Fernsehprogramme“, man kann natürlich jede Beschleunigungstendenz kritisch sehen, und es ist auch legitim, das so sehen zu dürfen. Ich kann mich da nur wiederholen: Da bin ich gnadenloser Pragmatiker, der sagt: „Das können wir noch hundertmal feststellen, es ändert aber nichts.“ In der Regel ist Nostalgie eher ein Gefühl, es schafft eher keine Fakten.
ANDREA SPIEGEL: Oh, ein schöner Satz, den können wir mal, den lassen wir mal so stehen.

ANDREA SPIEGEL: Wir haben ja jetzt in den letzten Folgen hier auch ganz viel über neue Technologien gesprochen, unter anderem auch über Dinge wie additive Fertigung, und wie das in Unternehmen eingesetzt werden kann oder auch, wie die Mitarbeiter richtig begleitet werden müssen. Das ging schon so ein bisschen in die Richtung, die wir jetzt auch schon besprochen haben.
Wie würdest du das jetzt angehen, in so einem beruflichen Kontext, in der beruflichen Bildung, wenn ich eben solche neuen Technologien, wie zum Beispiel additive Fertigung, gerne in meine Prozesse integrieren möchte, die, wie du sagst, ja schon seit Jahren, vielleicht Jahrzehnten, bestehen, immer mal wieder kleinen Veränderungen unterlegen sind und ich jetzt nicht nur eine Prozessveränderung brauche, sondern eben auch einen Wissenstransfer und eine Wissenserweiterung bei meinen Mitarbeitenden? Wie kann ich diesen Prozess entsprechend begleiten, mit Bildungsformaten, und was wäre da eine gute Idee?
PROF. DR. MARTIN: Also, das eine, was man sagen kann, ist, dass wir nach wie vor feststellen, die besten Lernergebnisse erzielen wir mit Primärerfahrung. Also mit Primärerfahrung meinen wir genau das, was wir im unmittelbaren Lernen machen, wenn wir den Gegenstand, um den es geht, bestenfalls – ich glaube, das ist hier ein gutes Beispiel – anfassen können. Also wenn wir in der Produktionshalle, so stelle ich es mir zumindest vor, arbeiten, muss ich mich noch ein bisschen in diesen Kontext reindenken, der nicht ganz meiner ist.
ANDREA SPIEGELTransfer ist entscheidend.
PROF. DR. MARTIN: Ganz genau. Also das ist aber gar kein Problem, glaube ich, den unmittelbaren Gegenstand so oft wie möglich zu bearbeiten, das funktioniert tatsächlich gut. Das ist ja das, was wir vorher auch schon wussten, und jetzt ist ja die Frage, wie wir das Ganze mit einem digitalen Potenzial anreichern können.
Nämlich wenn es darum geht, nicht am unmittelbaren Gegenstand zu arbeiten, Lerninfrastrukturen aufzusetzen, die das Potenzial haben. Es wird ja vielleicht auch theoretisches WissenHintergrundwissen benötigt, vielleicht brauche ich neues rechtliches Wissen, vielleicht ändern sich Unternehmensstrukturen, vielleicht geht es auch um einen kulturellen Wandel. Ich könnte mir vorstellen, dass das in Betrieben und Unternehmen häufiger eigentlich ein Metaziel ist, zu sagen: Ja, das eine ist die neue Fertigungsstraße, das andere ist aber der Paradigmenwechsel, der damit verbunden ist. Und der ist ja stark mit Haltung und Einstellung verbunden. Es geht also eigentlich um Kopfarbeit, sozusagen, das, was bei der Kollegin oder dem Kollegen manifestiert ist, der 35 Jahre im Betrieb ist.
ANDREA SPIEGELGewohnheiten eben zu durchbrechen.
PROF. DR. MARTIN: Richtig, die zu durchbrechen. Und das funktioniert eben nur bedingt primär, sondern es braucht die dauerhafte Dosis. Und da sind natürlich digitale Tools ideal, also zu sagen, können wir eigentlich die breite Palette dessen, was mit dieser betrieblichen Veränderung und Transformation verbunden ist, aufgreifen. Ich würde als Empiriker immer so vorgehen, wie wir es in der Schule tun würden. Wir brauchen eigentlich eine sogenannte Item-Batterie. Also es muss einmal abgesteckt werden, von den Expertinnen und Experten unterschiedlicher Abteilungen des Unternehmens, die sagen, wo und auf welcher Ebene sich etwas ändert. Marketing könnte ich mir auch vorstellen, also ein betrieblicher Wechsel bedeutet auch, dass sich das Marketing dazu in irgendeiner Form verhalten muss.
ANDREA SPIEGEL: Man möchte ja auch das neue Setup oder das neue Mindset nach außen transportieren.
PROF. DR. MARTIN: Genau. Das heißt, diese unterschiedlichen Akteure würde ich als Empiriker immer zusammensetzen, und wahrscheinlich würde man es jetzt nicht so stoisch machen, wie wir es in der Wissenschaft tun. Das braucht es auch gar nicht, aber im Prinzip, nach der Logik von Item-Batterien, Dinge zusammenzuführen. Was ist das, was an hartem WissenEinstellungHaltung, vielleicht auch an Selbstwirksamkeitserwartung wichtig ist, um dieser Anforderung gerecht werden zu können? Ein wichtiger Glaubenssatz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das alles zusammenzuführen, gut zu operationalisieren und dazu spezifische Aufgabenformate zu entwickeln, weil so lernen wir ja weiter. Also typische Assessment-Tools beispielsweise. Bestenfalls würde man bei erwachsenen Lernerinnen und Lernern gut konstruierte Fallsituationen darstellen.
Also Fallarbeit ist ein guter Ansatz für ältere und versiertere Lernerinnen und Lerner, mit denen man hervorragend arbeiten kann. Diese Fallarbeit dann zu einem dauerhaften Lerngegenstand zu machen, den ich auch mit nach Hause nehmen kann. Wenn ich das nämlich einflechte in eine Kollaborationsstruktur, die mir vielleicht sogar KI-gestützte Rückmeldung dazu gibt.
Trägt das eigentlich? Ein Tool, wenn man sich das vorstellt, wäre durchaus kompilierbar, das ist kein Problem, wenn ein Unternehmen entsprechend investiert. Zu sagen, diese Art von Veränderung steht an und ich möchte eine Lerninfrastruktur aufbauen, ausgehend von der echten Situation, die neu ist.
ANDREA SPIEGEL: Auf verschiedenen Levels.
PROF. DR. MARTIN: Ja, genau, richtig. Die ich durchlaufen muss. Und da gibt es ja eine Reihe von Beispielen, die das schon tun, wahrscheinlich nicht ganz passgenau, aber diese Infrastruktur wäre in jedem Fall eine von der Bildungsadministration für Schulen. Das sieht sehr rudimentär noch aus, aber ich könnte mir vorstellen, ein Unternehmen mit dem entsprechenden Kapital, wenn es das hat, hätte da ein großes Potenzial, eine All-Inclusive-Lernumgebung zu schaffen. Diese wäre unabhängig vom eigentlichen Ort, könnte kollaborativ zusammengeführt werden und noch dazu KI-gestützt gut abschätzen, was passiert, wenn dieses und jenes gemacht wird. Was ist das prognostische Szenario für unser Unternehmen, für die einzelnen Einheiten und dergleichen mehr? Das ließe sich gut umsetzen, ist ja das, was man auch durchspielt, wenn man unternehmerische Entscheidungen trifft.
ANDREA SPIEGEL: Wollte gerade sagen, und durch dieses Level-System könnte man es sogar noch ein bisschen kompetitiv machen. So nach dem Motto, wer ist gerade auf welchem Level, wie weit – Gamification-ElementeGaming ist immer gut in der Bildung.
PROF. DR. MARTIN: Genau, richtig. In der Bildung ist es tatsächlich gut. In der schulischen Bildung kann es manchmal auch kontraproduktiv sein, aber in kompetitiv ausgerichteten unternehmerischen Kontexten funktioniert es gut.
ANDREA SPIEGEL: Kann man ja auch mit so einem Augenzwinkern versehen, sage ich gerade.
PROF. DR. MARTIN: Ja, ganz genau, richtig. Aber im Kern funktioniert das ja tatsächlich gut, einen wettbewerblichen Charakter mit einzuführen.
ANDREA SPIEGEL: Wir wollen ja nicht umsonst Zertifikate für bestimmte Dinge haben.
PROF. DR. MARTIN: Ganz genau. Also ich finde tatsächlich auch, es ist nichts Illegitimes, Leistungsunterschiede ab einem bestimmten Level sichtbar zu machen. Es darf nur nicht demotivierend wirken, also zumindest die Grundsatzleistung muss reichen. Aber lange Rede, kurzer Sinn: Das könnte, ist jetzt sicherlich weit gesprungen, und ich könnte auch nicht sagen, ob es dieses eine Tool gibt, das das so umsetzt, weil wir wissen, dass sehr große Unternehmen durchaus in ähnlichen Logiken und Infrastrukturen arbeiten. Diese werden aber unter gar keinen Umständen offengelegt.
Da reden wir über die großen Tech-Giganten, die ihre Transformationsprozesse durchaus so begleiten lassen, aber da dringt ja nichts raus. Sie würden ja einen Teufel tun, das offenzulegen, weil damit natürlich auch so Transformationspotenzial nach außen drängen würde. Das kann man gut verstehen. In dieser Welt funktioniert das nicht. Aber aus der Perspektive dessen, was eigentlich eine Lernschrittigkeit für erwachsene Lernerinnen und Lerner mit RoutinenHaltungEinstellungWissen und einem persönlichen Mindset, das relativ stabil ist, kann das tatsächlich etwas sein, was wirklich gut funktionieren könnte – vor allem losgelöst vom Lernort, im Berufskontext.
ANDREA SPIEGEL: Das haben wir uns hier schon so ein bisschen gemütlich eingerichtet. Ich weiß nicht, ob man das vielleicht auch hört bei euch da draußen. Es regnet mal wieder ein bisschen hier auf den Truck drauf. Ich finde es eigentlich ganz gemütlich. Ich hoffe, es stört euch nicht oder ihr hört das nicht zu sehr. Also wundert euch nicht, wenn es im Hintergrund ein bisschen prasselt und pratzelt. Das ist der Regen auf diesem wunderbaren Lab on Tour hier.

ANDREA SPIEGEL: Vielleicht nochmal zum Abschluss deine Einschätzung: Inwiefern wird KI in Zukunft eine verstärkte Rolle in diesen Bildungskontexten, insbesondere in der beruflichen Bildung, spielen? Und welche Mehrwerte wird sie hoffentlich liefern oder welche Mehrwerte erhofft ihr euch von den Projekten, an denen ihr momentan schon arbeitet?

PROF. DR. MARTIN: Also, ich fange mal mit dem Großen und Ganzen an: Sie wird eine Rolle spielen. Das ist, glaube ich, der uninnovativste Satz, mit dem man einen solchen Podcast beenden kann. Das ist mittlerweile fast ein Allgemeinplatz. Aber die Frage ist, was ist jetzt spezifisch?
Ich glaube, es wird sich im Wesentlichen daran unterscheiden, ob wir uns KI-gestützt fremdsteuern oder selbst steuern. Letztlich ist eine KI-Stützung immer ein Stück weit Fremdsteuerung, weil es, wenn auch unbewusst, von außen gesetzt wird. Die Frage ist nur, welchem Zweck dient das? Ist es ein kommerzieller Zweck, dem ich mich erst mal gar nicht so richtig entziehen kann oder will, bei dem ich einfach mitmache? Man könnte es als unsaubere Social-Media-Nutzung bezeichnen. Das soll keine Wertung sein, aber das ist es erstmal.
Ich glaube, die entscheidende Frage wird sein, wie sehr man bereit ist, ich denke, man sollte es sein, Ressourcen zu investieren, um diese KI-Strukturen tatsächlich zu nutzen. Das wird nur funktionieren, wenn wir entweder bestehende Tools, wie ChatGPT, einbinden oder neue Generatoren entwickeln, die Antworten auf Fragen liefern, die sonst mühselig erarbeitet werden müssten. Man muss das gut reflektieren, denn es kostet Zeit und Geld, wenn wir uns nichts vormachen. Oder ich bin tatsächlich bereit, eigene Infrastrukturen aufzubauen.
In dem Hochschulverbund, aus dem dieser Projektkontext stammt, haben wir durchaus auch Lehrstühle, die entsprechende Expertisen haben – gar nicht unbedingt, um das sofort eins zu eins umzusetzen, aber sie bilden einen Querschnitt ab. Ich glaube, es geht darum, Kooperationsstrukturen zwischen WirtschaftGesellschaftBildungHochschulen, den Innovationsprozessen und auch den großen Tech-Firmen zu schaffen. Man muss das in einen marktwirtschaftlichen Kontext einbetten, in dem alle voneinander profitieren können.
Die Frage ist jetzt: Welcher Zielsetzung lässt man das Rennen überlassen? Geht es um den informellen Konsum, und damit auch um stark kommerzialisierte Nutzung, oder nutzen wir KI für den Bildungskontext und machen uns die Mühe, sie zu entwickeln? Und das wird ein bisschen dauern, das muss man auch klar sagen.
ANDREA SPIEGEL: Da ist also noch Potenzial.
PROF. DR. MARTIN: Da ist auf jeden Fall Potenzial und noch Luft nach oben. Ich glaube, in diesen zwei Grundzügen steckt das Potenzial, und ansonsten gibt es viel ExplorationsraumTrial and Error sollte zugelassen werden, mit Blick auf die Tools, die schon vorhanden sind. Wir sollten offen genug dafür sein, zu entscheiden: Vielleicht trägt das für uns gerade nicht, aber manches davon wird man instrumentalisieren können. Ich glaube, sowohl in Unternehmen als auch im privaten Leben und in Bildungskontexten. Und ein offenes Visier ist wichtig – Angst ist sicherlich das falsche Einfallstor.
ANDREA SPIEGELLernen betrifft uns alle am Ende.
PROF. DR. MARTIN: In der Tat.
ANDREA SPIEGEL: Sehr gut. Vielen Dank. Ich hätte jetzt noch 1.000 andere Fragen an dich, die ich mir für den Moment aber erstmal zurückstelle. Vielleicht haben wir noch die Gelegenheit, in nächster Zeit darüber zu sprechen. Vielen Dank für deine Zeit und die spannenden Antworten.
Und an euch da draußen: Wenn euch die Folge gefallen hat, lasst uns gerne einen Daumen nach oben bei YouTube oder eine Bewertung bei Apple Podcast oder Spotify da. Wenn ihr noch Fragen habt oder weitere IdeenAnregungen oder Wünsche zu diesem Thema oder auch zu anderen Themen, die wir im Podcast behandeln können, dann meldet euch gerne. Schreibt uns eine E-Mail oder hinterlasst eure Kommentare. Wir leiten eure Fragen auch gerne weiter und lassen sie hier von den Experten beantworten.
Und damit haben wir tatsächlich die fünfte und letzte Folge unserer spannenden Reihe „Industrie meets Wissenschaft“ beendet. Das war die letzte Folge hier aus dem „Lab on Tour“. Die nächste Folge kommt dann wieder aus unserem Studio, der gewohnten Umgebung in Sulzbach. Vielen Dank nochmal für deine Zeit.
PROF. DR. MARTIN: Danke für die Einladung.
ANDREA SPIEGEL: Danke euch fürs Zuhören und macht’s gut, bis zum nächsten Mal.

Welche Idee steckt hinter der Multikommissionierung in der Lagerlogistik?

„Die Idee bei der Multikommissionierung ist auch da, eben solche Leerfahrten, Leerwege, egal ob jemand läuft oder eben fährt, zu vermeiden.“

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