ANDREA SPIEGEL: Du hast jetzt vorhin schon das Thema digitale Zwillinge und auch Simulationen angesprochen. Das wären Technologien, die wir uns, glaube ich, mal angucken können, oder Themen, die in der Konstruktion spannend sind. Unter anderem ja auch das Thema 3D-Druck, aber da kann ich schon verraten, dass es dazu noch eine separate Folge geben wird, die noch tiefer auf dieses Thema eingeht. Daher würde ich das Thema heute ausklammern. Aber du hast schon gesagt, digitaler Zwilling, Simulation und so weiter – inwiefern spielt das nachher in der Konstruktion eine Rolle und wo stehen wir da gerade?
PROF. DR. KOLBE: Ja, also ich fange mal mit der Simulation an. Der digitale Zwilling und Simulation werden manchmal vielleicht so ein bisschen gleichgesetzt, aber es gibt trotzdem noch einen kleinen Unterschied. Simulation, wie man es verstehen kann, ist eigentlich die Vorhersage meines Bauteils. Ich komme eigentlich auch ein Stück weit aus dem umformtechnischen Bereich, da hat man zum Beispiel auch die Prozesse simuliert. Das ist jetzt weniger Konstruktion, könnte man denken, aber wenn ich ein Blechformteil habe, also zum Beispiel eine Autotür, wirkt das natürlich auch darauf, ob ich es später fertigen kann, und das hat wiederum Einfluss auf die Konstruktion. Die Simulation nutze ich einfach dafür, dass ich vorhersagen kann, wie sich mein Bauteil verhält, oder wie der Umformprozess abläuft. Oder wenn ich jetzt rein mechanisch bleibe: Ob das Bauteil überhaupt hält. Also bei einer Brücke würde niemand auf die Idee kommen, „wir bauen einfach mal die Brücke“.
ANDREA SPIEGEL: Und dann gucken wir mal.
PROF. DR. KOLBE: Genau, dann gucken wir mal. Und wenn es nicht gepasst hat, ist das natürlich schlecht. Man probiert natürlich vorab.
ANDREA SPIEGEL: Hoffen wir jedenfalls, dass es so nicht gemacht wird.
PROF. DR. KOLBE: Nein, wird es nicht. Bei Brücken wird es definitiv nicht so gemacht. Da sitzen ziemlich viele Leute dran. Es muss aber auch gesagt werden, dass nicht jedes Teil in der Welt nachgerechnet wird. Gerade bei Schraubenverbindungen, wenn sie nichts Festes halten müssen, geht man oft von Erfahrung aus, was auch vollkommen okay ist.
ANDREA SPIEGEL: Dafür hat man ja die Erfahrung.
PROF. DR. KOLBE: Genau, man hat die Erfahrung, und das würde auch zu viel Geld kosten, wenn man jedes Bauteilnachrechnen würde. Aber nehmen wir mal eine Simulation: Dieser Tisch wird auch nicht ohne Simulation gemacht, genauso wie beim Auto, das kennt jeder, diese Crash-Simulationen und so weiter, oder hat vielleicht die Bilder mal gesehen.
ANDREA SPIEGEL: Der arme Dummy, der gegen die Wand fährt.
PROF. DR. KOLBE: Genau, und den kann man auch virtuell abbilden. Den ganzen Prozess simuliere ich und spiegel die Ergebnisse anschließend wieder in meine Konstruktion. An der Stelle muss etwas geändert werden, hier und da. Oder halt direkt die Konstruktion von Anfang an: Ich habe hier einen Träger, der muss gewisse Kräfte abfangen. Zuerst mache ich vielleicht eine analytische Handrechnung, weil die meistens schneller geht, und schätze das mal ab. Und dann heißt es aber: „Das muss leicht sein, aus welchen Gründen auch immer.“ Dann kommt man irgendwann nicht mehr umhin, numerische Methoden zu verwenden, also dass der Computer das simuliert. Ich muss dann Materialkennwertefestlegen, also was für ein Werkstoff verwendet wird, wie sich dieser unter Last verhält, insbesondere dann, wenn er sich plastisch verformen kann.
ANDREA SPIEGEL: Und das weiß ich einfach, weil ich so gebildet bin?
PROF. DR. KOLBE: Ja, genau. Aber das ist wirklich eine Simulation, bei der ich eine Vorhersage darüber mache, wie sich das Teil verhält. Ich kann auch andere Prozesse simulieren, wie den Umformprozess, den Zerspanungsprozess oder einfach auch gucken, wie sich ein Teil verhält, wenn es schwingt. Zum Beispiel bei Vibrationen: Wenn ich mit dem Auto über die Autobahn fahre, möchte ich natürlich nicht, dass alles so vibriert.
ANDREA SPIEGEL: Ja, es ist halt so ein Surren im Hintergrund.
PROF. DR. KOLBE: Genau, diese Geräusche. Vielleicht kennt man das auch: Für all diejenigen, die Kinder haben, ist es oft so, dass, wenn nur die Kinder hinten die Fenster runtermachen, es zu unangenehmem Vibrieren kommt. Das flattert so. Gut, das wird jetzt meistens nicht wegoptimiert, aber solche Geräusche möchte man nicht haben. All das kann man vorab simulieren – nicht alles, aber so viel wie möglich. Es kommt auf das Produkt an: Automobilhersteller simulieren alles durch, der Anlagenbauer, der vielleicht Sondermaschinen baut, macht bei ausgewählten Teilen Kollisionskontrollen und prüft, ob diese dauerhaft halten. Der macht jetzt aber meistens keine Schwingungsanalysen oder Ähnliches – das hängt von der Erfahrung ab. Und wenn man jetzt in den Bereich des digitalen Zwillings geht, wird es eigentlich noch ein Stück weiter.
Der digitale Zwilling wurde 2003 eingeführt, dieses Konzept, in der Universität von Michigan. Es geht darum, dass ich von meinem realen Bauteil ein komplettes virtuelles Abbild habe. Man könnte jetzt denken, das ist doch das Gleiche wie ein CAD-Modell, aber es ist mehr als das: Das CAD-Modell zeigt, wie es sein könnte oder wie ich es mir vorstelle. Der digitale Zwilling geht weiter, indem ich wirklich das physisch hergestellte Bauteil auch wieder in mein virtuelles Modell zurückspiele. Das bedeutet: Zum Beispiel, ich habe das Teil gefertigt, mit all seinen Toleranzen. Es soll 100 Millimeter lang sein, plus/minus ein Zehntel – das steht auf meiner Zeichnung. Im CAD-Modell ist es hinterlegt, aber gefertigt ist es dann vielleicht 99,9 Millimeter. Diese 99,9 Millimeter werden dann auch wieder in mein virtuelles Modell des Bauteils übertragen. Ja, das ist jetzt eine Größenordnung.
Was ich damit machen kann? Wenn ich es wirklich bis zur Spitze treibe, kann ich das ganze Produkt und am besten auch den Fertigungsprozess mit allen Daten ausstatten. Ich kann also sagen, welche Geschwindigkeiten hatte die Maschine, wie waren die Parameter, wie war der Schmierstoff, was hat die Presse gepresst, welche Raumtemperaturen gab es im Prozess? All diese Daten kann ich in meinen digitalen Zwilling integrieren. Und am besten wäre es natürlich, auch die Nutzungsphase mit Sensorik auszustatten. Was vielleicht bei einem Auto schwierig ist – beim Auto sind natürlich Sensoren drin, aber da fängt der Datenschutz an. Kein Mensch möchte, dass wirklich sein komplettes Fahrverhalten erfasst wird.
Aber nehmen wir zum Beispiel eine Windkraftanlage. Das ist weniger kritisch, wenn ich dort Daten wie die Drehzahl der Windkraftanlage und Schwingungen messe. Wenn ich da Sensorik habe und die Daten auch wieder in mein virtuelles Modell übertragen kann, dann habe ich erst mal viele Daten. Und man könnte fragen: Was mache ich mit diesen Daten? Aber ich kann natürlich dann prüfen, ob das, was ich im Konstruktionsprozess ursprünglich geplant habe, tatsächlich stimmt. Ob sich das Teil so verhält, wie es sollte. Im Schadensfall – was wir natürlich nicht hoffen – kann ich rückschließen, wie es dazu kam.
ANDREA SPIEGEL: Wo war der Fehler? Genau.
PROF. DR. KOLBE: Genau, und weil ich den digitalen Zwilling mit meinem realen Modell verknüpft habe, kann ich schneller reagieren. Ich kann zum Beispiel auch mal ausprobieren, was passiert, wenn ich den Flügel der Windkraftanlage anders ausrichte. Ich stelle mein virtuelles Modell entsprechend um, mache eine Simulation und sage dann: „Okay, das kann man so machen.“
ANDREA SPIEGEL: Vielleicht eine Effizienzsteigerung. Genau.
PROF. DR. KOLBE: Und das spiele ich dann zurück in mein reales Modell. Das ist vielleicht das größte Potenzial, weil hier wirklich eine 1:1-Kopplung stattfindet. Oft wird der digitale Zwilling aber auch einfach so genutzt: Zum Beispiel bei der Industrie, wenn eine neue Produktionsanlage oder -straße aufgebaut wird. Es ist ja immer sehr aufwendig, Maschinen umzupositionieren und Handgriffe zu optimieren. Dann kann ich eine komplette virtuelle Produktion erstellen, indem ich meine Bauteile und auch die Maschinen, die sie fertigen, oder Montagelinien sowie menschliche Mitarbeiter oder Roboter digital abbilden. So kann ich den gesamten Prozess einmal digital durchlaufen lassen, bevor ich die reale Produktion starte. Dadurch komme ich viel schneller ans Ziel.
ANDREA SPIEGEL: An das Ziel, das ich mir erhofft habe, sozusagen.
PROF. DR. KOLBE: Ja.
ANDREA SPIEGEL: Okay.