ANDREA SPIEGEL: Also ich habe mir jetzt noch nichts Konkretes überlegt, weil ich dachte, du hast bestimmt schon viel erlebt. Ich könnte mir vorstellen, dass es zum Beispiel bei der Anlieferung ein Thema sein könnte. Die Lieferzeitfenster können sich ja mal verschieben, man kann im Stau stehen oder so. Ich weiß nicht, ob man da irgendwie Daten aktuell übertragen kann, ob da überhaupt Virtual Reality zum Beispiel sinnvoll wäre oder ob das dann nicht schon zu viel ist. In dem Bereich könnte ich es mir vorstellen. Oder wenn es um Teile geht, dass der Lieferant eben Bescheid bekommt, dass Teile nachgeliefert werden müssen. Aber da ist die Frage, brauche ich dafür schon Extended Reality in irgendeiner Form oder reicht da vielleicht auch einfach eine normale Datenmeldung?
CHRISTIAN KLERNER: Das ist genau der Punkt, auf den ich ein bisschen abzielen wollte. Entschuldige das Herumdrehen des Spießes.
ANDREA SPIEGEL: Alles gut, nein, das ist gut.
CHRISTIAN KLERNER: Mir ist dabei bewusst geworden, dass in manchen Fachbereichen die Use Cases noch nicht so stark auf der Hand liegen und man verführt sein könnte, Technologien zweckzuentfremden oder einzuführen, die dann doch eher ein Nice-to-have sind. Visualisierungsthemen sind uns ganz stark im Sales– und Produktbereich sowie im Service begegnet, weil ich eben Wissen über die Distanz transferiere. Im Trainingsbereich ist es ähnlich. Dort müssen vielleicht nicht mehr 40 Leute aus der ganzen Welt eingeflogen werden, um zu zeigen, welcher Knopf gedrückt werden muss. Das war jetzt überspitzt formuliert. Aber es geht darum, Trainingsszenarien zu vereinfachen, Menschen aus der Ferne über die Schulter schauen zu lassen, wenn dort geschult wird. Im Lieferantenverhältnis sind die Themen meiner Meinung nach noch nicht so eindeutig. Zumindest schreit der Maschinen- und Anlagenbauer, den du angesprochen hast, noch nicht direkt danach.
ANDREA SPIEGEL: Das ist ja auch eine spannende Aussage. Es ist vielleicht auch beruhigend zu wissen, dass man nicht alles sofort in einen Use Case einbeziehen muss. Wir haben jetzt schon über das Thema gesprochen, die Mitarbeiter und vielleicht auch die Kunden einzubinden. Hast du da noch Tipps? Für manche ist es vielleicht eine befremdliche Technologie oder man fragt sich, was man mit so einer Brille im Gesicht soll. Wie gewöhne ich meine Leute daran, wie nehme ich sie mit und wie lasse ich sie das dann auch erleben und umsetzen?
CHRISTIAN KLERNER: Grundsätzlich schließt sich der Kreis und wir knüpfen an den Punkt von vorhin an, dass man möglichst früh das operative Geschäft einbezieht. Das sind dann oft Interviews oder Gespräche über den Alltag der Mitarbeiter. Was treibt einen Mitarbeiter, eine Mitarbeiterin im Alltag um? Wo liegen tatsächlich die Herausforderungen, bevor man mit Technologie-Features kommt und um sich wirft? Das ist der erste Punkt. Ich stelle immer wieder fest, dass wenn man mit Technologie kommt und jemandem zum Beispiel so eine Brille auf den Kopf setzt und sagt, probiere mal aus, dann kommt die Reaktion: Ja, das ist ganz nett, aber wie soll man das jetzt verwenden?
ANDREA SPIEGEL: Geht auch ohne, ja.
CHRISTIAN KLERNER: Genau, geht ja bisher auch ohne, aber wie soll das jetzt helfen? Wenn du vorher in Gesprächen sensibilisiert hast und mit den Mitarbeitern gemeinsam die Herausforderungen aufgedeckt hast. Man kann es auch als Problemlösung direkt angehen. Dann führst du danach andere Gespräche über die Technologie, weil die Bereitschaft, sich zu verändern, größer ist, wenn ich weiß, es dient mir. Es dient nicht nur meinem Arbeitgeber, weil irgendwas vielleicht günstiger oder schneller geht.
ANDREA SPIEGEL: Zeit und Geld sparen, ja.
CHRISTIAN KLERNER: Genau, sondern es dient mir tatsächlich als Mensch in meinem Tun heute. Wenn ich Wissen teile, weiß eine andere Person mehr als vorher und ruft mich vielleicht nicht immer im Urlaub an, weil nur ich es bisher wusste. Auf diese vermeintlich zwischenmenschlichen, vielleicht auch weichen Faktoren aufzusetzen, ist einfacher als zwingend zu sagen, es geht danach schneller und ist für uns günstiger oder der Kunde zahlt dann mehr. Wenn der Kundefür den neuen Service Geld zahlt, ist das gut, aber das ist noch ein weiterer Weg, bis es mich als Mitarbeiter wirklich auch einen Vorteil bringt. Wenn es mich aber entlastet, dass ich nicht mehr kurzfristig weit weg fliegen muss für einen Serviceeinsatz und eine andere Person freut sich darüber, ist das das Naheliegendste.
Ein weiterer Punkt, der sich vielleicht ein bisschen mit dem schneidet, was ich vorhin gesagt habe, ist das Thema, dass Mitarbeiter die neue Hardware, zum Beispiel eine Brille, auch mal mit nach Hause nehmen und damit spielen. Tatsächlich zu spielen. Wenn ich mit einer Datenbrille zu Hause ein Spiel spiele oder mein Kind spielen lasse, wird es für mich normaler und intuitiver. Die Gesten, die ich in die Luft mache, weil ich einen Button durch die Brille sehe, den sonst niemand sieht, werden intuitiver, wenn ich damit auch spiele und mich in der Freizeit damit beschäftige, und nicht nur, weil ich es muss und ausschließlich auf den Job bezogen.
Das wird meist unterschätzt: Wann soll ich meinen Mitarbeitern so ein Werkzeug mit nach Hause geben? Es ist ja erstmal ein Werkzeug. Ein weiterer, etwas strategischer Tipp ist, nicht nur an einen einzigen Use Case zu denken und zu sagen, das ist der Use Case und davon machen wir abhängig, ob wir in die Technologie investieren. Es ist sinnvoll, breiter zu denken und zu schauen, wo es Überschneidungen zwischen dem Tagesgeschäft, dem Service operativ und dem Trainingsszenario gibt. Dann wird auch der Preis relativiert. Es wird oft gesagt, eine Datenbrille kostet 3000 Euro, das ist teuer. Wenn jemand weiß, was ein iPhone ohne Vertrag kostet, ist das relativ schnell ein anderer Preis, den man privat schon zahlt. Und wenn man sich nach Geschäftsreisepreisen erkundigt, wenn
jemand kurzfristig zum Serviceeinsatz muss, ist der Preis kein Vergleich.
ANDREA SPIEGEL: Vielleicht schon nach einem Einsatz wieder drin.
CHRISTIAN KLERNER: So ist es. Das ist aber eher ein Tipp für die Führungsriege, das Thema breiter anzugehen und sich eine Roadmap zu entwickeln. Das ist meine Daseinsberechtigung, eine Roadmap zu entwickeln, wo man die Abhängigkeit von Use Cases festhält und einen Plan entwickelt, der übermorgen hinausgeht.
ANDREA SPIEGEL: Das heißt aber auch nicht, dass ich sofort alles abdecken muss. Angenommen, ich finde fünf Use Cases, in denen ich das sinnvoll einsetzen kann, muss ich ja trotzdem nicht gleich alle fünf angehen.
CHRISTIAN KLERNER: Richtig. Ich starte mit dem naheliegendsten Use Case. Das ist im Maschinenanlagenbau ganz eindeutig die Remote-Unterstützung im Service mit Augmented Reality. Das ist der naheliegendste Punkt, weil er die offensichtlichsten Schmerzpunkte abdeckt. In Pandemiezeiten durfte ich oft nicht mehr zum Kunden ins Haus. Ich musste überlegen, wie ich mein Wissen transferiere, damit eine andere Person die Maschine in Betrieb nehmen kann. Oft müssen deutsche Firmen gezwungen werden, solche Innovationen anzunehmen.
Ein weiterer Punkt ist, dass mir Leute ausgefallen sind. Ich konnte vielleicht nicht mehr mit 15, 20, 30 Personen im Service planen, sondern hatte nur noch 10 da. Ich musste also schauen, wie ich Wissen bereitstelle, sodass jemand etwas tun kann, der in gewissen Bereichen noch nicht die Erfahrung hat. Und es gibt noch viele weitere Punkte. Junge Leute kommen nach und sagen, ich bin nicht mehr bereit für eine Fernbeziehung. Ich kann Dienstag arbeiten bis Donnerstag, Freitag fahre ich mittags schon weg und am Montag komme ich erst mittags zurück. Wenn das für dich passt, fange ich bei dir an.
Das ist die Erwartungshaltung zum Teil. Ich muss mir also überlegen, weil diese Schmerzpunkte so offensichtlich sind, ist der Bereich ganz vorne mit dabei. Man könnte auch sagen, es ist ein bisschen gezwungen, aber es tut dem Maschinenanlagenbau sehr gut, dazu bewegt worden zu sein.